Nachrichten an den verstorbenen Sohn
Nachrichten an den verstorbenen Sohn
Von Golli Marboe, Erstveröffentlichung: Wiener Zeitung vom 30. Oktober 2020
Illustration: Tobias Marboe (1989-2019).
Lieber Tobias,
wenige Tage nach Deinem Tod habe ich begonnen, Dir Nachrichten zu schreiben. Ein bisschen so, wie man ein Tagebuch führt. Aber wozu schreibt man jemandem, der schon gegangen ist? Wie könnten Dich denn diese Gedanken überhaupt erreichen? Es ist wohl der ziemlich hilflose Versuch, gegen die Endgültigkeit des Todes anzukämpfen. Indem ich an Dich, an den Verstorbenen schreibe, kannst Du einfach nicht verschwinden. Vor allem möchte ich Dich als Dialogpartner, der Du Dein Leben lang für mich warst, halt einfach weiter nutzen.
Golli Marboe war viele Jahre TV-Produzent und ist unter anderem Obmann des Vereins zur Förderung eines selbstbestimmten Umgangs mit Medien. Er ist Vater von vier Kindern und lebt in Wien, sein Sohn Tobias nahm sich vor knapp zwei Jahren das Leben.
Bekomme ich Antworten? Sind die Notizen an Dich eine Art Gebet oder Meditation? Ja, denn das übliche Erinnern alleine schiene mir einfach zu wenig. Damit würde ich Dir nicht gerecht werden. Es wäre die Reduktion auf den Blick in die Vergangenheit. Aber Du bist ja nicht vergangen. Du bist weiterhin mitten in unserem Leben. Und eben ganz gewiss nicht nur in einer verklärten Form, sondern als Sparring-Partner. Deine Dir wichtigen Anliegen und gesellschaftlichen Ziele prägen und bestimmen inzwischen auch mein Denken und Handeln.
In unserem Fall verschieben sich so manche Dinge: In der Regel entwickeln Kinder jene Gedanken weiter, die ihnen die Eltern hinterlassen, wir machen das umgekehrt. Ich baue auf vielem auf, was Du erdacht und für Dich entschieden hast, und versuche jene Dinge zu befördern, die Dir besonders am Herzen lagen. Europa, ein bedingungsloses Grundeinkommen, der Diskurs und das Denken, schließlich die Überwindung von Angst. Man muss gerade in einer Gesellschaft wie unserer Position beziehen. So versuche ich das Deiner eingedenk nun mehr denn je. In meinem Alter ist das möglich. Man kann sich auch dann zu Wort melden, wenn man nicht bei den Siegern ist, wenn man sich nicht beim Mehrheitsgeschmack zuhause fühlt. Denn man braucht dieses Gemeinschaftsgefühl nicht mehr. Man könnte mit den Erfolgreichen gar nicht mehr mitheulen.
Denn es bleibt der Schmerz, es bleibt der Verlust, es bleibt die Suche nach Gründen, nach Versäumnissen oder auch nach Schuld. Es bleibt aber auch die Hoffnung, dass Du in irgendeiner Form diese meine Eintragungen in den Computer, meine Notizen an Dich lesen und bewerten kannst. Es bleibt die Hoffnung, dass dieser Alltag auf Erden eben nur ein Teil unserer aller Persönlichkeiten ist. Dass wir tatsächlich mehr sind als unser Körper, als die Summe chemischer und biologischer Reaktionen. Es bleibt die Hoffnung, dass es eine Seele gibt. Es bleibt die Hoffnung, dass es einen Geist gibt. Keinen Geist, der wie ein Gespenst daherkommt und irgendwelche sehr speziellen Zeichen gibt. Aber sehr wohl einen Geist, der nach wie vor - auch nach Deinem Tod - durch unseren Alltag weht.
Diese Nachrichten an Dich - die Du im Ordner für Notizen meines Laptops finden kannst - stehen Dir jedenfalls gerne und jederzeit offen. Bitte wähle Dich einfach ein. Wenn Du magst, hinterlasse einen Gruß und schreibe kurz, was Du so machst und ob es Dir eh gut geht . . .?