Gibt es ein größeres Scheitern als den Selbstmord des eigenen Kindes?
Gibt es ein größeres Scheitern als den Selbstmord des eigenen Kindes?
Frage und Antwort eines Vaters. Von Golli MARBOE
Artikel von Golli Marboe, Erstveröffentlichung: Pfarrblatt der Dompfarre St. Stephan, Herbst 2019
Golli Marboe ist Journalist, ehemaliger Filmproduzent und Gründer von VsUM (Verein zur
Förderung eines selbstbestimmten Umgangs mit Medien)
Natürlich stellt man sich diese Frage! Immer wieder. Die Antwort ist einfach: Nein! Warum aber kehrt man dennoch in kleinen Schritten zu etwas Ähnlichem wie Alltag zurück? Tobias hat 29 Jahre gelebt. Und wir waren all diese Tage und Stunden und Minuten in einem liebe- vollen Austausch. Wir haben Gehen, Fahrradfahren und irgendwann auch Autofahren geübt, wir haben über Fußball, Politik und über die Familie gesprochen. Gemeinsam und manchmal auch einsam nach dem Sinn im Leben ge-
sucht. Wir haben philosophiert. Sehr oft über den freien Willen und das Wechselspiel mit den eigenen Veranlagungen. Auch über das Recht sich das Leben zu nehmen. Und ja, sichtlich habe ich Zeichen übersehen bzw. in ihrer letalen Auswirkung nicht genügend zum Anlass genommen als Vater rigoros zu handeln. Denn Tobias war Künstler, und ein Kreativer neigt doch immer auch zu Selbstzweifeln, zur Depression.
Idealisierte Welt
Tobias hatte zahlreiche Freunde – etliche davon dürfen wir auch unsere Freunde nennen – und
mit ihnen war er auf Reisen, hat Fußball gespielt und über Gott und die Welt diskutiert. Tobias wollte einen Beitrag leisten. Seinen Talenten folgend mit Bildern, Texten, Videos und Liedern. Jeden Tag wieder hat er neue Dinge kreiert. Diese wurden kaum rezipiert. Es hätte einen Zweiten gebraucht, der seine Werke „vermarktet“. Eine Person, die besser ins Heute passt. Jemand, der seine Werke abrechenbar und daher auch für phantasielosere Menschen bewertbar gemacht hätte. Tobias war von uns in eine idealisierte Welt geschickt. Es ginge darum, einen Beitrag zu leisten. Seine Talente nicht zu vergraben. Er hat das sehr ernst genommen, wollte authentisch sein. Hat sich bemüht um ein stärkeres Miteinander in Europa, um mehr Solidarität durch ein bedingungsloses Grundeinkommen und um eine Welt mit vielen Farben, die das Leben zeigen kann, als Kontrast zum einfachen Schwarz und Weiß. Er hat Fragen gestellt in einer Welt, die vorgibt auf beinahe alles eine Antwort zu kennen. Und seine Fragen waren in der Regel von Ironie und Humor begleitet. Aber all seine Bemühungen kamen über die Anerkennung aus der Familie und seiner engeren Freunde kaum hinaus.
Bild: Tobias Marboe, Feuer und Wasser
„aufpassen, dass niemand so traurig würde, wie er ... “
Tobias hat wohl (zumindest unterbewusst) um seine Todesgedanken gewusst – er war nie ohne seinen Kopfhörer und er hat jede Menge Sport betrieben. Musik und Bewegung – eigentlich die besten Mittel gegen Traurigkeit. Tobias jedenfalls ist mit seinem Leben sicher nicht gescheitert. Schon, weil er in der Erinnerung vieler Menschen, seiner Freunde und seiner Familie weiterlebt. Wenige Stunden vor seinem Tod hat mich Tobias ganz liebevoll umarmt und er sagte dabei zu mir: ich solle aufpassen, dass halt niemand von uns so traurig würde, wie er es geworden war. Ich verstand seinen Satz als ein Zeichen der Erleichterung – hatte das Gefühl in ihm hat sich ein Knoten gelöst und er öffnet sich uns nun mit seinen Sorgen und Ängsten. Vielleicht hat er aber auch Abschied genommen.
Auftrag, andere zu ermutigen, über Depressionen und Ängste zu sprechen
Jedenfalls versuche ich nun seinem Auftrag zu folgen! Möchte in der nahen Verwandtschaft sowie-
so, aber eben auch im mittelbaren Umfeld von dieser unsagbaren Katastrophe berichten und damit
den Menschen ihre Scheu nehmen, eigene Ängste anzusprechen. Es ist nicht gerade einfach das zu versuchen, aber Tobias Abschiedsbrief klingt fast so wie eine Aufforderung und ein Segen, der uns Mut machen und beruhigen soll. Kein Wort eines Vorwurfs –nur Liebesbekundungen uns Hinterbliebenen gegenüber. Tobias hat uns und wir ihn geliebt. Daher sind auch wir nicht gescheitert. Aber es gibt keinen Tag, an dem wir nicht weinen, dass Tobias nicht mehr bei uns ist, denn es ist einfach wider die Natur beim eigenen Kind nicht nur den Geburtstag, sondern auch den Todestag zu kennen.