Ein Kind verlieren

Ein Kind verlieren

Etwas andere Gedanken zum Vatertag.

Der Journalist und TV-Produzent Golli Marboe über den Suizid seines Sohnes Tobias.

Von Golli Marboe, Erstveröffentlichung: Salzburger Nachrichten am 08. Juni 2019

Vor vielen Jahren, als unser Sohn Tobias noch nicht einmal in der Volksschule war, da hat den kleinen Buben beinahe einmal ein Auto überfahren. Genau vor unserer Haustür ist er ohne zu schauen plötzlich über die Straße gelaufen. Viele Mütter, viele Väter kennen einen solchen Augenblick: man passt kurz nicht auf, das Kind rennt unvermittelt los und beinahe kommt es zu einem Unglück. Tobi hatte damals alle Schutzengel der Welt und wir waren unendlich erleichtert.

Diese Weihnachten, fünfundzwanzig Jahre später, da standen wir wieder auf dieser Straße vor unserer Haustür. Tobias war inzwischen 29 Jahre alt, er hatte sich aus dem 4. Stock in den Tod gestürzt.

Im amerikanischen Kinofilm „Demolition“ heißt es: Wenn eine Frau ihren Mann verliert, dann nennt man sie Witwe, wenn ein Kind seine Eltern verliert, dann wird das Kind zur Waise, aber es gibt keinen Begriff, der Eltern beschreibt, die ihr Kind verlieren, und einen solchen Begriff sollte es auch nicht geben.

Es ist wider die Natur: Denn diese unbedingte Form der Liebe, die man dem eigenen Kind gegenüber empfindet, die gibt es einfach nur von Mutter bzw. Vater zum Kind. Weder zur Partnerin noch zu den eigenen Eltern existiert dieser bedingungslose Wunsch, dass es dem anderen, nämlich dem eigenen Kind halt einfach nur gut gehen möge.

Aber nun ist alles anders. Vor allem über die Gegenwart und Zukunft zu sprechen – im Wissen, dass für den eigenen Sohn die Zukunft schon vorbei ist. Das Leben bleibt stehen für Tobias. Irgendwann sind auch seine jüngeren Geschwister älter, als er es wurde. Heute ist es noch so, dass Tobias in unseren Alltag einsteigen und alles mitverfolgen könnte. Er kennt die Verwandtschaft, die Namen, das Alter aller Cousinen und Cousins und vor allem von Alma, seiner geliebten Nichte. Tobias wollte sich im Wahlkampf für Europa engagieren und es war ihm als Anhänger von Rapid zwar klar, wie schlecht das Team in der laufenden Meisterschaft gerade liegt, aber dass wir noch im Cup vertreten waren und vielleicht sogar den ersten Titel nach langer Zeit hätten holen können. Wochen, Monate oder Jahre werden vergehen, die wir Eltern und seine Geschwister nun ohne Tobias verbringen müssen. Die durchschnittliche Lebenserwartung lässt sogar vermuten, dass wir von heute an noch länger auf der Welt sein werden, als Tobias es sein ganzes Leben an Jahren war.

Was wird sich in diesen Jahren alles verändern? Verwandte werden sterben, Kinder geboren, älter und größer werden. Wir alle berichten dann bestimmt den Cousinen vom Cousin, der Nichte von ihrem Onkel. Jede Menge Anekdoten und Geschichten werden wir erzählen – außerdem seine Musik, seine Bilder, seine Texte immer wieder in Ehren halten – an die nächste Generation weiter geben. Aber Tobias wird in all diesen Erinnerungen immer eben maximal 29 Jahre alt bleiben. Er kann und wird nicht mehr weiter älter. Wird keine Familie gründen, keine Kinder erziehen, obwohl wir alle doch meinen, er wäre bestimmt ein großartiger, besonders einfühlsamer Vater geworden.

Beim Begräbnis und im Rahmen der anschließenden Agape haben wir ein Video mit einem Teil seiner Arbeiten gezeigt. Da war es offensichtlich: Auch 29 Jahre sind ein volles Leben. Und Tobias’ 29 Jahre waren offenbar intensiver und leidenschaftlicher als die vieler anderer.

Sentimentalität ist schrecklich – man tut sich dann selbst so leid – aber gerade wir Eltern haben natürlich die Fantasie, dass unser Bub mehr Anerkennung außerhalb seiner eigenen Familie erfahren hätte können, Anerkennung, die er leider nicht bekam – das ist schon traurig.

Genauso traurig, wie das Gefühl des wohl schrecklichsten Scheiterns, das es als Mensch nur geben kann: dem eigenen Kind offensichtlich nicht genug Sicherheit, Liebe, Geborgenheit gegeben zu haben, dass es sich mit seinen Sorgen, einer unendlichen Traurigkeit, dieser schrecklichen Einsamkeit nicht an Vater oder Mutter gewandt hat. Tobias hat uns aber einen ungemein liebevollen Abschiedsbrief hinterlassen. Kein Wort des Vorwurfs, nur Zeilen der Liebe und der Hoffnung. Hoffnung ist nicht schrecklich.

Die Chance auf ein Leben nach dem Tod ist ja zumindest 50:50. Also könnten wir uns vielleicht ja tatsächlich einmal wieder sehen. Schon jetzt fühlen sich die Besuche am Friedhof völlig anders an, als zum Beispiel bei den eigenen Eltern oder den Großeltern. Es ist keine „Pflichterfüllung“ zu Allerheiligen oder zu Weihnachten zum Grab zu gehen. Nein – es ist ganz anders: man besucht sich wirklich und innig.

Es geht viel näher, wenn man da steht und weiß, da liegt das eigene Kind.

Tobias’ drei Geschwister haben am Friedhof vier Luftballons in die Luft steigen lassen. Einer ist in den Himmel aufgestiegen, die drei anderen in einer Baumkrone unweit des Grabes hängen geblieben. Wir sind einfach noch angehalten hier zu sein. Den Muttertag, den Vatertag zu feiern. Auch und gerade, weil eines unserer Kinder nicht mehr dabei ist: Tobias, der uns immer schrecklich fehlen wird.

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Gibt es ein größeres Scheitern als den Selbstmord des eigenen Kindes?

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Mein erster Vatertag ohne Tobias