Nachhilfe für die Seele, bevor es zur Krise kommt

Von Carmen Baumgartner-Pötz, 07. Juli 2025, aus Tiroler Tageszeitung

Die „Mental Health Days“ gehen in ihr viertes Schuljahr. Das Präventionsprogramm richtet sich an Schüler, Lehrer und Eltern.

Wien, Innsbruck – Depressionen, Mobbing, Überforderung, Handysucht – die Gefühlswelt von Kindern und Jugendlichen ist komplex. Niemals war sie frei von Problemen – auch nicht, als von Smartphones und Social Media noch keine Rede war. Das Bewusstsein für die Wichtigkeit der mentalen Gesundheit ist aber in den letzten Jahren stark gestiegen. Vergangene Woche hat die Regierung im Ministerrat eine Aufstockung der Mittel beschlossen: Geplant sind laut Bildungsminister Christoph Wiederkehr (NEOS) ein Ausbau von Präventionsprogrammen, mehr Personal für Schulpsychologie und Schulsozialarbeit sowie verpflichtende „Exit-Gespräche“, wenn der Schul abbruch droht.

Wissen, nicht Therapie

Golli Marboe (59), freischaffender Journalist, Dozent und Autor, weiß, wie es ist, wenn die Welt aus den Fugen gerät. Sein Sohn Tobias nahm sich 2018 im Alter von 29 Jahren das Leben. Suizid gilt nach wie vor als gesellschaftliches Tabuthema. Dieses Schweigen wollte Marboe nicht mittragen: Er schrieb nicht nur ein Buch („Notizen an Tobias“, Residenz Verlag), sondern gründete auch die Initiative „Mental Health Days“. An dem Präventionsprogramm für die Sekundarstufe 1 und 2, das im Herbst in sein viertes Schuljahr geht, haben bisher 150.000 SchülerInnen und Lehrlinge an mehr als 200 Schulen teilgenommen. „Es geht um Wissensvermittlung, nicht um Therapie. Die ‚Mental Health Days‘ sind kein Programm zur Akuthilfe, sondern 100 Prozent Prävention“, erklärt Marboe und zählt die drei Ziele des Programms auf: „Sichtbarkeit für das Thema psychische Gesundheit schaffen, über Gefühle reden und auf Hilfseinrichtungen verweisen, die leider nicht so bekannt sind, wie diese gerne glauben.“ Das Programm wurde von Anfang an von einem wissenschaftlichen Beirat begleitet. Studien geben Aufschluss, wie es um die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen bestellt ist. Die „Mental Health Days“ gibt es in acht von neun Bundesländern: Tirol ist noch nicht dabei. Die Module sollen Interesse am Thema psychische Gesundheit wecken. Das Programm wird wissenschaftlich begleitet. Aus einer dieser Erhebungen weiß Marboe etwa, dass junge Menschen zwar viel im Internet und auf Social Media sind. Mehr als 54 Prozent wollen dort noch nie Hilfsangebote zum Thema Suizid gesehen haben. Unter anderem deshalb bekommen alle Schülerinnen und Schüler Flyer, auf denen viele Angebote aufgelistet sind. „Die Haptik des Papiers hat immer noch einen Vorteil gegenüber dem Überangebot im Netz. Und Flyer können in einer Krise hilfreich sein, weil man sie in einer guten Phase bekommen hat.“ Was außerdem hilfreich sein kann: Lernen, über Gefühle zu reden. Wenn Marboe und seine KollegInnen vor den Klassen stehen, fragen sie gerne, wer heute schon Zähne geputzt hat. „Da gehen immer alle Hände hoch. Aber wenn wir fragen, wer heute schon über seine Gefühle nachgedacht hat, dann bleiben die Hände unte­n.“

Eltern und Lehrer an Bord

Marboes Wunsch: „Gerade in Österreich, dem Land von Sigmund Freud, Alfred Adler, Erwin Ringel und Viktor Frank­l, sollte es doch möglich sein, dass es neben einem jährlichen Sportfest in der Schule auch einen Tag der psychischen Gesundheit gibt.“ Golli Marboes Team aus Moderationspersonen, PsychologInnen und PsychotherapeutInnen geht nur an Schulen, die neben dem Modul für die Jugendlichen auch Veranstaltungen für LehrerInnen und Eltern zulassen. „Es ist nur sinnvoll, wenn alle an Bord sind und nicht selektiert wird. Psychische Probleme sind ja auch niemals monokausal“, sagt er. Die Module für die SchülerInnen sind mit Videos von Peers und Promis und begleitenden Graphic Novels so aufgebaut, dass sich die Jugendlichen unterhalten fühlen. „Unser Ziel ist es, Interesse zu wecken, dass auch danach noch über das Thema geredet wird. Unser Präventionsprogramm kann aber nur ein Kieselstein sein“, formuliert es der Medienexperte. Die Tirolerin Barbara Haid, Präsidentin des Österreichischen Bundesverbandes für Psychotherapie, begleitet die „Mental Health Days“ seit Jahren. Sie ist beeindruckt, wie gut und schnell sich das Programm entwickelt hat. „Es ist eine tolle Ergänzung zur Akuthilfe und zu SchulpsychologInnen.“ Dass Bildungsminister Wiederkehr den Lebensraum Schule auch für andere Berufsgruppen öffnen will, findet ihre Zustimmung: „Es kann nie zu viel Unterstützung geben. Leider wurden hier über Jahrzehnte Dinge verabsäumt oder blockiert. Aber bei Wiederkehr sehe ich eine große Bereitschaft, sich des Themas anzunehmen.“ Das Programm ist für die Schulen kostenlos. In Tirol als einzigem Bundesland gibt es die „Mental Health Days“ dennoch nicht. Die Abteilung Schulpsychologie in der Bildungsdirektion setzt stattdessen auf eigene Workshops.

Von Carmen Baumgartner-Pötz, 07. Juli 2025, aus Tiroler Tageszeitung

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