Trauer ist keine Krankheit!

Vor wenigen Monaten kam Caspar unser zweites Enkelkind zur Welt. Ein junger Mann mit dicken Backen; ein junger Mann, der vom ersten Tag an sehr gelassen wirkt, in sich ruhend. Er beschäftigt sich mit Essen und Schlafen. Beides funktioniert gut.

Caspar, ein Bub. Ein Bub, der die ersten Wochen des Lebens auf Erden zu genießen scheint. So wie wir das vor mittlerweile 34 Jahren auch von unserem Sohn wahrgenommen hatten. Tobias, mit dem wir wenige Wochen nach der Geburt einen wunderschönen Urlaub in der Toskana verleben konnten. Sein ganzes 29 jähriges Leben lang wird Tobias eine besondere Beziehung zu Italien haben.

Caspar – der Neffe von Tobias ist nun das erste Mitglied unseres Familienverbandes, der den Onkel nicht mehr persönlich kennengelernt hat. Der erste der jüngeren Verwandtschaft, mit dem kein Foto existiert, auf dem Tobi den neuen Erdenbürger im Arm hält.

Machen mich diese Gedanken nun also traurig?
Kann ein derart schönes Ereignis wie die Geburt des Enkelkin des denn auch traurig machen?

Ja, es ist traurig, dass sich die beiden jungen Männer hier auf Erden nicht kennenlernen. Ja, es ist schrecklich, in solchen Momenten des Lebens auch immer sehr konkret an den Suizid von Tobias erinnert zu sein.

Obwohl doch das eine Jahr der Trauer schon längst vorbei ist. Obwohl doch eh noch drei andere Kinder auf der Welt sind und inzwischen auch die beiden Enkel.

Woher kommt die weit verbreitete Idee, dass man Trauer die doch nichts anderes als eine Form der Liebe den bereits Verstorbenen gegenüber ist ablegen sollte?

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Die Beziehungen zu anderen Menschen machen ihn aus. Und wenn dann jemand geht, dann gebietet es doch die Würde den Vorausgegangen gegenüber, diese nicht aus dem Gedächtnis zu streichen wie ein nicht mehr zeitgemäßes oder abgenütztes Kleidungsstück.

Wie sollte die Liebe zum eigenen Kind vergehen?

Diese unbedingte Form der Liebe, die nichts für einen selbst möchte, sondern nur für die oder den anderen. Man möchte einfach, dass es dem Kind gut geht.
Eine Form der Liebe, die wohl nur in der Beziehung zu den eigenen Kindern (und natürlich auch zu den Enkeln) erlebbar ist. Der Tod, dieser so schreckliche wie überflüssige und unweigerliche Endpunkt unseres Lebens, der kann viel, aber diese Form der Liebe kann auch der Tod nicht beenden.
Und das nennt man dann Trauer.

Wieso sollte aber der Kalender ein Trauerjahr diese Verbundenheit trennen können?

Trauer ist keine Krankheit.

Trauer gehört gelebt. Trauer ist Teil einer Persönlichkeit.
Wenn man meine Trauer als Einschränkung versteht, dann ist Trauer eben mein imaginärer Rollstuhl, mit dem ich mich seit dem Tod meines Sohnes bewege. Ich bin nach wie vor mobil, aber es gibt halt mehr Barrieren als vor dieser Katastrophe.

Oft geht die Trauer einher mit Schuldgefühlen und mit Zorn.

Das wieder sind zwei Emotionen, die es wohl in der sogenannten Trauerphase aufzuarbeiten und zu überwinden gilt.

Denn sowohl die Schuld, als auch der Zorn sind keine Zeichen der Liebe, sondern Emotionen der Einengung.

Schuld meint, man hätte etwas in der Hand gehabt, den anderen zu retten. Schuld meint, man stünde über „Leben und Tod“ eines oder einer anderen. Schuld ist ein „Omnipotenz-Gefühl“, als ob man der „liebe Gott“ wäre.

Schuld ist wie Mitleid, man stellt sich über die verstorbene Person. Man macht diese kleiner. Schuldgefühle stehen im Gegensatz zur Empathie. Schuld behindert die uneingeschränkte Liebe, die den anderen liebt und eben nicht sich selbst ins Zentrum der Gefühle stellt.

Schuld wird uns in dieser Gesellschaft der Fehlerkultur von Kindesbeinen an fest eingebrannt:
durch das Markieren der Fehler in der Schule (statt des Lobes für erbrachte Leistungen), durch das christliche Verständnis der Erbschuld (statt das Gleichnis zur Erlösung aus dem Paradies als eine Idee der Freiheit zu verstehen), durch das Zeitaltar der Optimierung im Beruf und in der Freizeit ob im Sport oder den sozialen Medien.

Auch das Prinzip der EntSCHULDigung.
Ein Fehler ist immer auch ein Makel. Ein Fehler ist aber eigentlich nur der gescheiterte Versuch etwas zusammen zu bringen.

Der eingangs erwähnte Caspar wird wohl um die tausend Mal den „Fehler“ machen nicht alleine und frei gehen zu können und auf den Hintern fallen. Ist Caspar jetzt eigentlich an irgendetwas schuld?

Selbstverständlich tragen Hinterbliebene eine Mitverantwortung an der Einsamkeit eines Verstorbenen.

Natürlich bräuchte es zu Fragen der psychischen Gesundheit in unserer Welt viel mehr allgemeines Verständnis und Wissen. Wissen im Rahmen der Symptomerkennung genauso wie im Selbstverständnis zur Abgrenzung, sobald die eigene Expertise eben nicht mehr ausreicht, um zu helfen.

Aber schuldig sind wir nicht.

Schuld kann ja in der konkreten Bedeutung des Wortes auch wirtschaftlicher Art sein. Man schuldet Geld.
Ja da könnte ich mit:
der Kapitalismus, der denkt, das System könnte sich über die einzelnen Menschen stellen. Ja dieses System trägt zumindest Mitschuld am Tod verzweifelter Menschen.

Und ja, dieser Verantwortung sollten wir uns stellen: dass wir nämlich an jenem gesellschaftlichen System mitwirken, das in Diktaturen wie in China, Saudi-Arabien oder in Russland wohl am effektivsten funktioniert.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen, mehr Verteilungsgerechtigkeit könnten gegen die Ursachen von psychischen Problemen und damit für weniger Trauer tatsächlich eine Chance sein.

Trauer ist jedenfalls „antikapitalistisch“. Denn Trauer widerspricht den großen Illusionen vom „jünger werden“, „reicher werden“ oder „schöner werden“.

Trauer bietet daher auch die große Chance, sich selbst zu finden. Trauer ist zutiefst persönlich, Trauer ist individuell, Trauer ist nie kollektivistisch.
Trauer beschreibt einen Menschen ganz persönlich.

Trauer kann zur Hilfe werden, sich selbst zu finden.

Was sind denn jene Themen, mit denen man sich im Leben noch beschäftigen möchte, sich überhaupt noch beschäftigen kann?

Trauer ist eine Form der Liebe zu anderen, aber eben auch zu sich selbst, wenn man diese zulässt.

Neben der Schuld gibt es dann eben auch noch den Zorn.

Und immer wieder höre ich gerade aus Psycholog:innen-Kreisen: „Zorn müsse man zulassen“ – „es ist immer gut, wenn man Emotionen zulässt......“

Echt jetzt?
Was soll daran gut sein, dass man Zorn auf verstorbene Menschen hat?

Nicht nur, dass sich diese gegen eine von Vorwürfen und Egozentrik getragene Emotion nicht wehren können.

Was macht Zorn mit der eigenen Seele? Man stellt sich in den Mittelpunkt des Seins. Zorn ist eine andere weitere Form der Erhöhung über die Verstorbene oder den Verstorbenen.
Ich bin wichtiger als andere. Wie konnte man mir das nur antun? Wie schaut mein Leben jetzt nur aus?

Aber wären nicht die Leiden der Verstorbenen und deren so existentiellen Krisen die sogar zum Suizid führten zu bedauern? Statt man selbst.

Zorn ist egozentrisch, Zorn ist lieblos, Zorn ist kontraproduktiv. Zorn sollte man als Hinterbliebene so schnell wie möglich ablegen.

Und wenn vielleicht auch verständlich, so ist der Zorn kein Weg zu Versöhnung, keine Idee von innerem Frieden und eben keine Form der Trauer.

Auch wenn also Trauer im Gegensatz zu „Schuld“ und „Zorn“ ein Teil des Menschen sein mag. Es wäre schön, wenn es weniger Anlass zu unendlicher Traurigkeit geben würde.

Dementsprechend gilt es, neben Postvention und der Betreuung von Hinterbliebenen, vor allem an einem gesellschaftlichen Klima zu arbeiten, in dem weniger Menschen psychisch belastet würden, und es weniger Katastrophen, weniger Suizide zu beklagen gibt.

Weniger Menschen wären traurig, wenn es mehr Verteilungsgerechtigkeit gäbe (Armut macht krank).
Weniger Menschen wären traurig, wenn es ein Bildungssystem gäbe, das Talente fördert, statt Schwächen zum Thema zu machen (Selbstachtung).

Weniger Menschen wären traurig, wenn wir ein Leistungsverständnis hätten, in dem nicht nur der persönliche Erfolg, sondern auch die Auswirkungen auf die Allgemeinheit eine Bedeutung hätten (Klima und Umwelt).

Weniger Menschen wären traurig, wenn es in unserer Gesellschaft belohnt würde„Fragen zu stellen“, statt bereits bekannte „Antworten zu reproduzieren“ (Visionen und Utopien, statt einer ungezügelten Partizipation, die zur Rückwärtsgewandtheit neigt).

Denn dann wären wir in einer Welt, in der es weniger psychische Probleme gäbe, dann wären wir in einer Welt, in der der Tod wenn schon nötig ein natürlicher Abschluss des Lebens und keine familiäre Tragödie mehr sein müsste.

Dann gäbe es vielleicht ein Foto von Tobias, der seinen Neffen Caspar im Arm hält.

PS: Hier noch einige ergänzenden Gedanken zu den Werken meines Sohnes Tobias (1989 – 2018)

Mein Sohn Tobias war Künstler. Seine Lieder, seine Texte oder auch seine Bilder lassen erkennen, wie sehr er wohl sein Leben lang auf der Suche nach Orientierung war. Seine Arbeiten zeigen Aspekte der Unruhe (wie das Wachsbild „digitalgrafitti“), der Verzweiflung (wie die Wort Bild Miniatur: „Ich kam sah und liebte“) oder stehen für Dilemmata (wie die Collage: „half full – half empty). Er beschreibt Momente der Suche und zeigt Momente dieser Suche (wie mit der Rodinschen Pose des „Denkers“). Die Arbeiten stehen nie für Antworten, diese zeigen immer wieder sich neu stellende Fragen oder Denkprozesse. Man könnte den Kampf zwischen Krankheit und Selbstbestimmung hinein interpretieren, wenn man eine Waage mit zwei gleichartigen und gleich befüllten Gläsern sieht, die trotzdem nicht im Gleichgewicht stehen.

Nun bin ich als Hinterbliebener traurig darüber, dass ich seinerzeit nicht mehr mit meinem Sohn über diese seine Arbeiten gesprochen habe.

Bin aber jedenfalls dankbar dafür, dass er uns mit diesen Arbeiten Eindrücke und Momente seiner Krisen eröffnet hat.

Bin froh, dass er so intensiv mit sich gerungen und wohl nicht zuletzt durch seine künstlerische Tätigkeit solange gelebt hat.

Seine Werke stehen für den Versuch, weiter nach Sinn zu suchen und darüber hinaus eigentlich eben auch weiter leben zu wollen.

Wie könnte man als Hinterbliebener auch nur eine Sekunde zornig oder verletzt durch den Suizid eines Menschen sein, der sich derartig vehement gegen die Krankheit gestemmt hat!

Korrespondenzadresse

golli.marboe@vsum.tv

Literaturhinweis

Golli Marboe (2021). Notizen an Tobias. Gedanken eines Vaters zum Suizid seines Sohnes. Salzburg: Residenzverlag

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Golli Marboe mit “mental health days” im ORF

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Suzidprävention: Warum Journalismus Leben retten kann