„Neue Normalität“ klingt verblüffend ähnlich, wie „illiberale Demokratie“!

„Neue Normalität“ klingt verblüffend ähnlich, wie „illiberale Demokratie“!

Blogeintrag von Golli Marboe, 14. April 2020

Bei Antoine de Saint Exupéry heißt es: „Sprache ist die Quelle aller Missverständnisse“, aber andererseits drücken Formulierungen und Worte eben auch immer eine Geisteshaltung aus – selbst wenn man sich derer gar nicht bewusst sein mag.

„Neue Normalität“ klingt verblüffend ähnlich, wie „illiberale Demokratie“!

Unsere Gesellschaft hat sich „Normalität“ und keine „neue Normalität“ verdient.
Wir alle möchten ohne Masken auf die Straßen gehen dürfen!
Wir alle möchten dorthin reisen, wozu wir Lust und Interesse haben!
Wir alle möchten jene Menschen wieder treffen können, mit denen wir uns austauschen wollen!
Wir alle möchten auch an unser ganz persönliches Glück denken dürfen und nicht nur an das Wohl des Kollektivs!

Der soziale Zusammenhalt und Rücksichtnahme auf Schwache sind hohe zivilisatorische Güter. Aber die vom Staat verordneten „Rezepte für Alle“, die sind in unseren Breiten Vergangenheit.

Diese „Rezepte für Alle“, die gab es im 20.Jahrhundert. Und bis heute leiden wir an den Nachwirkungen der Gewaltregime, die das taten.
Diese „Rezepte für Alle“, die existieren nach wie vor im nach Monopolen strebenden Wirtschaftsleben; aber die gibt es wahrlich nicht mehr in europäischen Demokratien und in unserem bürgerlichen persönlichen Alltags- und Selbstverständnis.

Der Begriff der „Neuen Normalität“,
der birgt aber in sich, dass wir vielleicht nicht mehr ohne Masken in der U-Bahn fahren werden dürfen,
der birgt aber in sich, dass ich vielleicht nur mehr auf Reisen gehen darf, wenn ich „gesund“ bin und auch nur mehr dorthin fahren darf, wo alle „gesund“ sind, und zurück darf ich dann vielleicht auch nur mehr, wenn ich immer noch „gesund“ bin;
der birgt aber in sich, dass ich auf mein geographisches und allenfalls noch auf mein nationales Umfeld begrenzt werden soll;
der birgt in sich, dass ich zuerst einmal an Alle zu denken habe.

Warum folgen wir nicht einfach der „goldenen Regel“, die vom Einzelnen ausgeht, aber eben auch die Grenzen des Einzelnen formuliert: „Was Du nicht willst, dass man Dir tut.....“
Freiwilligkeit und eben keine Verordnung einer „Neuen Normalität“, die in sich birgt, dass ich mich wie ein Verbrecher fühle, wenn ich auf der Straße gehe, obwohl es erlaubt ist, sich die Beine zu vertreten.
die in sich birgt, dass ich Polizistinnen mit einem vorauseilendem Schuldgefühl statt mit Wertschätzung und auf Augenhöhe begegne, weil ich mich fürchte, etwas falsch zu machen.
die in sich birgt, dass es keinen Widerspruch geben soll – denn es ist nun einmal „normal“, auch wenn es neu ist. Wie ein physikalisches Gesetz.

Kann es also sein, dass die Ereignisse von „Ischgl“ nun in ihren Auswirkungen für unseren staatsbürgerlichen Alltag ähnliche Folgen haben könnten, wie jene in Sarajevo oder gar diese in Braunau?
Werden Menschen, die krank oder vielleicht einfach nur „anders“ – die dem Wohl des Nationalstaates nicht zuträglich sind – in Zukunft also „Aussätzige“ in unserer „Neuen Normalität“?
Müssen wir diese bei der Polizei anzeigen?
Müssen wir Städter aus den Zweitwohnsitzen vertreiben?
Müssen wir Menschen, die sich öffentlich küssen, fragen, ob sie eh zusammen leben?
Müssen wir asiatisch aussehende Menschen nicht besser ausweisen?
Müssen wir Leute, die weltanschaulich also kein „türkis grün“ tragen nun also unter Beobachtung stellen?
Es ist erschreckend, wir schnell sich eine „Neue Normalität“, die in ihrer Anmut gar nicht so neu schmeckt, sondern eher an „Das Leben der Anderen“ erinnert, in den Herzen und Köpfen einnistet.

Nein, bitte wirklich keine „Neue Normalität“ – ein „Neues Denken“ gerne!

Ein Denken, das keine Unterschiede zwischen unbegleiteten Jugendlichen an der griechisch türkischen Grenze zu jenen Menschen macht, die als Risikogruppe für Covid 19 gelten. Beide Gruppen verdienen unsere Unterstützung.
Ein Denken, das keine Unterschiede zwischen Chinesen, Italienern oder Barbetreibern aus Ischgl macht. Das Nationale ist das schlimmste und übelste Virus, das es je gegeben hat. Das müssen doch gerade wir Österreicher aus unserer Vergangenheit gelernt haben!
Ein Denken, das uns nicht über die Arbeits- und Wirtschaftskraft formuliert, sondern über die Freude an Talenten , die jeden einzelnen Menschen vom anderen unterscheiden. Jeder Mensch ist an Würde gleich, egal ob fleißig oder faul, egal ob jung oder alt, egal ob homo- oder heterosexuell, egal ob speziell begabt oder Vorzugsschülerin und sowieso völlig egal ob weiblich oder männlich.
Ein Denken, das die Frage stellt, was man überhaupt als gesund bezeichnen sollte und darf.
Ein Denken, das eben das Fragen über die vermeintlich für alle gültigen wahren Antworten stellt.

Und vor allem ein Denken, das den Worten Martin Bubers folgt, der sagte:
„Wenn wir uns auf Begegnungen nicht mehr einlassen, verlieren wir einen entscheidenden Bestandteil unseres Lebens. Es ist so, als würden wir aufhören zu atmen.“

———————

Golli Marboe, (*1965) Vater von vier Kindern, Großvater einer Enkelin, freier Journalist und Vortragender zu Medienfragen; Obmann von VsUM (Verein zur Förderung eines selbstbestimmten Umgangs mit Medien)

Zurück
Zurück

Antrag: Universum History “Der Mensch und das Bier – 10.000 Jahre Kulturgeschichte”

Weiter
Weiter

Ich bin Städter, lebe in Wien und Sie werden mich auch nach Corona in Steinbach wohl nicht mehr sehen.