Ö1, oder: Der Hörsinn kommt uns besonders nah

Die Furche-6 , 08. Februar 2024

Mag es daran liegen, dass man bereits als Ungeborenes im Mutterleib Stimmen hört; mag es daran liegen, dass man die Ohren (anders als die Augen) nicht verschließen kann; mag es daran liegen, dass auch der Gleichgewichts- und der Orientierungssinn des Menschen im Innenohr angesiedelt sind: Was wir hören, hat eine besondere Bedeutung, eine große Glaubwürdigkeit und dient der Orientierung. Im Fall von Ö1 nicht nur im physiologischen, sondern auch im übertragenen Sinn. Wenn man in der Früh mit „Gedanken für den Tag“ versorgt wird, dann beschreiben diese Minuten vor sieben schon so viel von dem, was Ö1 ausmacht: Ein Thema wird aus sechs unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet. Kein Pro und Kontra, kein Entweder-oder, sondern das Sowohl-als-auch. In der Regel kaum Antworten, doch eher Fragen. Dann gleich im Anschluss das „Morgenjournal“. Keine Sendung des Landes prägt – ob ihrer journalistischen Qualität – den öffentlichen Diskurs im Land mehr. Kein News-Format wird in anderen Medien öfter zitiert. Unter der Woche folgt das „Radiokolleg“. Es macht Gedanken sichtbar, von denen wir noch nicht wussten, dass wir diese interessant finden werden: Lernen kann so schön sein. Apropos schön: die täglichen „Spielräume“, in denen alle Arten von Qualitätsmusik zu hören sind. Es kommt bei Ö1 nämlich schon längst nicht mehr aufs Genre (wie man vielleicht vermuten könnte Oper, Operette und Klassik) an, sondern auf die Virtuosität, die soziale Wirkung, die Interpretinnen, das inhaltliche Anliegen, die besondere Interpretation – völlig egal ob aus der Welt des Jazz, des Pop, der Volksmusik oder eben auch der Klassik. Wöchentliche Formate wie die „Menschenbilder“, bei denen man porträtiert werden kann, ohne ein VIP gewesen sein zu müssen; „Ambiente,“ ein Reisemagazin, das die eigenen Bilder im Kopf entstehen lässt, oder die „Königin aller Ö1-Formate“: „Diagonal“ – Musik, Porträts, unbekannte wie bekannte Orte, Themen  … Die ganze Welt von Ö1 in einer Sendung. Und diese Liste ist so unvollständig, wie es eben unendlich viele Geschichten gibt, die man von den Ö1-Kolleginnen und -Kollegen noch hören kann und möchte. Das alles ist bei Ö1 in Jahrzehnten gewachsen. Es mag sein, dass in diesem Biotop auch das eine oder andere Gestrüpp, vielleicht auch der eine oder andere in die Jahre gekommene Baum liegt. Aber auch im Forst werden alte Äste liegengelassen. Auch diese haben eine Funktion. Wenn man nun versucht, dieses Biotop mit den Welten des Fernsehens und der Onlinewelt gleichzumachen, dann wird wohl ein gepflegter Garten übrig bleiben können – aber mit den wild wachsenden und überraschenden Pflanzen, die da aus heiterem Himmel am Horizont erscheinen, wird es wohl eher nichts mehr werden können. Liebe ORF-Spitze: Jedes Prinzip braucht doch seine Ausnahme!

Golli Marboe

Der Autor ist Obmann des „Vereins zur Förderung eines selbstbestimmten Umgangs mit Medien“ (VsUM)

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