Zunächst geht es um Beziehung

Wie geht angemessene mediale Berichterstattung zu Suizid(versuchen)? Ein Gastkommentar aus aktuellem Anlass.

Die Furche-7 , 15. Februar 2024

In diversen Aussendungen der letzten Tage prangern aus tragischem, aktuellem Anlass renommierte Einrichtungen, wie der Presseclub Concordia, die katholischen Publizistinnen und Publizisten, das Frauennetzwerk Medien und etliche andere eine „unfassbare Hetzjagd“ gegen einzelne Menschen in den sozialen Netzwerken an. Das stimmt uneingeschränkt – wir müssen zu Regeln finden, wie wir mit Andersdenkenden auch online besser kommunizieren. In zahlreichen Solidaritätsnoten im Netz wird nun nach Schuldigen gesucht, die für diese vermeintliche Verzweiflungstat zur Verantwortung gezogen werden sollten. Vor fünf Jahren starb mein Sohn Tobias durch Suizid. Bis heute wirkt diese Katastrophe bei seinem Freundeskreis und bei uns in der Familie nach. Aber nach Schuld fragt niemand. Das ist keine Kategorie, die im Andenken an einen Verstorbenen eine Rolle spielt. Bei aller nachvollziehbarer Kritik an einer „Hetzjagd“: Wissen wir denn sicher, was die Hintergründe in den Stunden vor einem Versuch, sich das Leben zu nehmen, wirklich waren? Sollten nicht gerade renommierte Journalisten und Journalistinnen wissen: Man veröffentlicht Informationen erst dann, wenn diese von mehreren Seiten bestätigt sind. Ganz besonders gilt das beim Verdacht auf Selbsttötung: Suizid und Suizidversuche sind nie monokausal. Angehörige und Betroffene lesen mit! Wenn das Leben nur so einfach wäre, wie das so mancher Populist eben glauben machen möchte. Doch das ist es nicht. Wenn jetzt in der völlig zu Recht aufgebrachten Journalisten-Blase die Forderung nach Regeln für die Kommunikation in sozialen Medien gefordert wird, dann ist das großartig. Lasst uns also nach Regeln suchen, aber lasst uns nicht in einen ähnlichen Ton verfallen, wie jenen, den es zu kritisieren gilt. Und vor allem sollte man nie vergessen, dass immer auch Angehörige, persönlich Betroffene, vielleicht auch Hinterbliebene bei diesem Diskurs mitlesen. Wie könnten solche Regeln aussehen? Grundsätzlich sollte in all unserer Kommunikation, so banal es klingen mag, die „goldene Regel“ gelten: Was du nicht willst, dass man dir tut, das füge auch keinem anderen zu. Vielleicht möchten wir uns alle miteinander – ob in der Journalisten-Blase oder auch in unserem persönlichen privaten Umgang – in den sozialen Medien an der Kunst der Kommunikation der Telefonseelsorge im Sinne der Krisenintervention ein Vorbild nehmen: Bevor noch Sachfragen ausgetauscht, diskutiert oder erstritten werden, geht es zunächst einmal um die Beziehung und die Ausgangslage der am Dialog beteiligten Personen. Ein Perspektivenwechsel sollte erfolgen: Warum kommuniziert die oder der Andere das gerade? Hat die Person selbst gerade Druck, Sorgen, Angst – oder befindet sie sich in einer Zwangssituation? Zunächst gilt es zu verstehen, was mein Visà-Vis ausdrücken möchte. Das bedeutet, eine Information jedenfalls einmal auf den Informationswert hin zu untersuchen und es nicht gleich besser zu wissen. Dann braucht es eine Unterscheidung zwischen Haltung und Mensch, vielleicht in diesem Stil: „Ich lehne Ihre gewalttätige Sprache und beleidigende Wortwahl ab, die Sie hier verbreiten, aber ich sehe auch Ihre Gefühle, Ihre Wut, Ihre Angst – Wut, Angst, Sorgen kenne ich auch. Könnten wir uns zunächst einmal darüber austauschen?“Und dann kann man beginnen, über ein Sachthema zu diskutieren. Dieser Dialog wird von einem anderen Geist geprägt sein, als ein spontanes Posting. Ja, die Telefonseelsorge mag andere Ziele verfolgen als die Journalisten-Blase oder die breite Öffentlichkeit. Aber warum eigentlich? Der Umgang mit einem Schicksalsschlag wie einem Suizidversuch sollte eine Mahnung sein, einen wertschätzenden Umgang in Worten wie in Taten miteinander zu pflegen. Wann, wenn nicht jetzt müssten wir das Wesentliche im Leben markieren: Empathie – auch für jene, die wir nicht verstehen.

Golli Marboe

Der Autor ist Obmann des „Vereins zur Förderung eines selbstbestimmten Umgangs mit Medien“ (VsUM)

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