Golli Marboe im Gespräch
Golli Marboe im Gespräch
Golli Marboe im Gespräch mit Judith Girschik, Erstveröffentlichung: leadership-institute.at am 07. April 2021
Golli Marboe, Journalist, Medienexperte und Autor im Gespräch mit Judith Girschik.
Die Medienwelt im Wandel
Sie verfügen über jahrzehntelange Erfahrung als Filmproduzent. National und international haben Sie hunderte Filme produziert. Währenddessen war und ist die Medienwelt einem ständigen Wandel unterworfen. Inwiefern spielen traditionelle Werte in Medienunternehmen noch eine Rolle?
Golli Marboe: Aus meiner Sicht spielen in den Medien vor allem Haltungen eine Rolle. Entscheidend erscheint mir, die menschliche Würde nicht zu verletzen, also etwa die Würde verletzter oder getöteter Menschen.
In Bezug auf journalistische Berichterstattung ist es Aufgabe der Medien, eine kuratierende Funktion im Sinne eines journalistischen Filters einzunehmen. Dazu zählt z. B. die Antwort auf die Frage, ob Menschen das, was sie in einem Live-Interview sagen, tatsächlich so meinen. Aufgabe des Mediums ist es dabei, der Intention des Befragten gerecht zu werden, also nichts aus dem Zusammenhang zu reißen und so Menschen Schaden zuzufügen. In Bezug auf Werte im Journalismus kann man also sagen: Menschlichkeit spielt eine Rolle.
Eine weitere Aufgabe der Medien ist es, gegen Aktivismus aufzutreten. Medien sollten ausreichende Distanz zu einem Thema einnehmen. So sollten sie etwa Experten zu Wort kommen zu lassen, die mindestens zwei Seiten eines Themas beleuchten, im Sinne von audiatur et altera pars.
Ziel der Berichterstattung muss es sein, Konsumenten dazu zu ermächtigen, mehrere Seiten eines Themas zu hören und sich so die eigene Positionen erarbeiten zu können.
Öffentlich-rechtlicher Rundfunk
Als Mitglied des ORF Publikumsrats sind Sie ein leidenschaftlicher Verfechter des öffentlich rechtlichen Rundfunks. Welche Rolle soll aus Ihrer Sicht dem öffentlich rechtlichen Rundfunk zukommen?
Golli Marboe: Hochentwickelte Formen der Demokratie, wie wir sie in Österreich haben, brauchen einen öffentlich rechtlichen Rundfunk.
Anders als das etwa in den USA der Fall ist (denken Sie an die US-Privatmedien Fox News und CNN und deren Kampagnenjournalismus) dürfen sich öffentlich rechtliche Sender nie auf eine Seite schlagen.
Ziel öffentlich rechtlicher Sender muss die Ermächtigung des Publikums in Sachfragen sein.
Sollten sich öffentlich rechtliche Sender durch Werbung finanzieren?
Golli Marboe: Nein. Aktuell stammen etwa 20% des ORF-Budgets aus Werbung. Meine Zielvorstellung wäre ein werbefreier, gänzlich aus Haushaltsabgeben finanzierter ORF. Teure Sportrechte müsste sich so ein Sender nicht erkaufen. Ein wahrer öffentlich-rechtlicher Sender sollte vor allem Lebensmittel für Herz und Hirn der Menschen zur Verfügung stellen.
Ein neues ORF-Gesetz würde hier gute Dienste leisten, auch im Sinne der Befreiung aus antiquierten Beteiligungsstrukturen. So sollte ein öffentlich-rechtlicher Sender etwa keine Anteile an Glücksspielunternehmen halten. Vor dem Wissen um Spielsucht und die Rolle von Beschaffungskriminalität sollte Werbung für Glücksspiel, zumindest in öffentlich rechtlichen Sendern wie dem ORF, verboten sein.
ORF und Werte im Journalismus
Damit wären wir wieder bei der Frage nach den Werten im Journalismus.
Golli Marboe: Ja genau. Public Value wäre so ein Wert. Aufgabe eines öffentlich rechtlichen Senders muss es sein, alle Aspekte eines Themas zu beleuchten. Privatsender schaffen das nicht.
Auch Respekt und Aufrichtigkeit zählen dazu: In einem Haus wie dem ORF sollte es möglich sein, die eigene Meinung auszusprechen, also Charakter zu zeigen. Wenn die Angst vor der Führung des Unternehmens das verhindert, etwa aus Furcht, auf das Abstellgleis geschoben zu werden oder überhaupt den Job zu verlieren, dann zeugt das von Änderungsbedarf.
Das betrifft nicht zuletzt die Organisationsstruktur im Unternehmen. Diese sollte klar und nachvollziehbar sein und sich weniger hinter unverständlichen Matrizen verstecken.
Kompetenter Umgang mit Medien
Sie sind der Gründer von VsUM, eines Vereins, der den selbstbestimmten Umgang mit Medien fördert. Mit Symposien, Bildungsveranstaltungen und Blogs und Ihrem täglichen Podcast „Über Medien reden – 365“ bieten Sie Material und Diskurs zum Erwerb redaktioneller Kompetenz. Welche Idee steht hinter diesem Engagement?
Golli Marboe: Im Hintergrund steht die Idee des Wandels von der digitalen zur redaktionellen Gesellschaft. Dieser Wandel braucht den kompetenten Umgang mit Medien, dazu zählt etwa das Verständnis, dass auch in einer zunehmend digitalen Welt, in der Menschen 8-10 Stunden täglich mit Medien verbringen, traditionelle Skills eine Rolle spielen. Dazu zählt auch die Fähigkeit, die Relevanz neuer Inhalte und deren Auswirkung auf das eigene Leben richtig einzuschätzen.
Die Kompetenz für diese Art der vierten Kulturtechnik unterstützen und fördern wir, also z. B. auch mit Vorträgen, Podcasts, Dossiers und Symposien.
Ein Thema, das sich im Zusammenhang mit journalistischer Verantwortung stellt, ist auch die Frage nach der korrekten Berichterstattung zum Thema Suizid. Hier spielt der sogenannte Papageno-Effekt eine Rolle: Anders als weithin angenommen hat die Berichterstattung über Suizide nicht ausschließlich ungünstige Effekte. Während man lange angenommen hat, dass Nachrichten zum Thema Suizid zu Nachahmungstaten führen (Werther-Effekt), weiß man heute, dass eine würdevoll „positive“ Berichterstattung zum Thema, also z. B. über die Lebenswelt und das Umfeld des Verstorbenen, den gegenteiligen Effekt hervorruft:
Studien der MedUni Wien zeigen, dass gezielte Berichterstattung zum Thema die Suizidgedanken gefährdeter Personen reduziert.
Journalisten können also nicht nur das Stigma des Suizids, sondern auch künftige Suizidraten senken.
Verfechter psychischer Gesundheit
Vor wenigen Wochen haben Sie das Buch Notizen an Tobias herausgebracht. Darin geht es um den Suizid Ihres ältesten Sohnes Tobias. Welches Anliegen verbinden Sie mit diesem Buch?
Golli Marboe: Viele junge Erwachsene vermissen heute Strukturen, die ihnen Orientierung und Trost stiften. Ein offenes Zugehen auf junge Menschen und das Fragen nach den richtigen Dingen fehlt unserer Gesellschaft heute zunehmend. Dabei würde gerade das die Entwicklung nach den eigenen Talenten und Möglichkeiten unterstützen.
Wer mit sich selbst und seinem Perfektionismus kämpft, sollte – ähnlich wie das ja etwa auch im Coaching geschieht- Hilfe in Anspruch nehmen können. Dabei sollte er nicht schief angeschaut werden.
Der Tod meines Sohnes Tobias hat mich zu einem Verfechter psychischer Gesundheit gemacht. Seinen Suizid habe ich insofern als Auftrag empfunden, als wir jungen Menschen Hoffnung geben und sie nicht in uferlose Traurigkeit abgleiten lassen sollten. Dazu will Notizen an Tobias einen Beitrag liefern.
Persönlichkeit, Kommunikation und Zukunft
Welche Rolle spielt Persönlichkeit, Bildung für den Erfolg in der Medienwelt? Anders gefragt: Welche persönlichen Eigenschaften brauchen Manager, die in den Führungsetagen großer Medienunternehmen erfolgreich sein wollen?
Golli Marboe: Entscheidend ist die Fähigkeit, gut und effizient zu kommunizieren. Kommunikationsfähigkeit, Dialog und Gesprächsbereitschaft sind aus meiner Sicht die tragenden Säulen erfolgreichen Medienmanagements.
Auch ein gewisses narratives Element spielt eine große Rolle. Anstelle des lexikalischen Erzählens, in dem es in erster Linie um reine Wissensvermittlung geht, wird künftig der Suche nach dem exemplarischen Moment, also dem biographischen Erzählen größere Bedeutung zukommen.
Generell werden Menschen ja durch eine gewisse persönliche Angreifbarkeit nahbarer. Auch Brüche in der eigenen Persönlichkeit tragen dazu bei und machen einen Menschen interessanter und zugänglicher.
Schließlich halte ich auch lebenslanges Lernen für einen bedeutenden Erfolgsfaktor. Auch für Medienmacher ändern sich die Berufsbilder (etwa vom Influencer zum Journalisten). Um damit umgehen zu können, braucht es vor allem Flexibilität.
Wie sehen Sie die Rolle des Fernsehens in der Zukunft?
Golli Marboe: Der ORF sollte vor allem Qualität anbieten. Qualität darin, Menschen an andere Orte und Zeiten der Vergangenheit wie der Zukunft zu führen.
Wir danken für das Gespräch!
Zur Person Golli Marboe:
geboren 1965 in Wien, ist Vater von vier Kindern. Er arbeitet als freier Journalist, hält Vorträge zu Medienfragen, verantwortete dreißig Jahre TV-Dokumentationen für Sender in ganz Europa, unterrichtet an diversen Hochschulen Journalismus im Bewegtbildbereich und ist Gründer und Obmann des „Vereins zur Förderung eines selbstbestimmten Umgangs mit Medien“ (vsum.tv). Zuletzt erschienen: „Notizen an Tobias“ (2021).