Der Papageno-Effekt

Der Papageno-Effekt

Wir müssen das Wissen über psychische Gesundheit stärken

Von Golli Marboe, Erstveröffentlichung: Kurier am 03. August 2022

Bild: Kurier

Heute, am 3. August, wäre mein Sohn Tobias 33 Jahre alt geworden. Er hat sich als junger Erwachsener das Leben genommen.

Natürlich fragt man sich als Hinterbliebener, welche Mitverantwortung, welche Schuld man am Tod des eigenen Kindes hat. Einer der großen Vorwürfe, den ich mir mache: Ich wusste so wenig über psychische Gesundheit. Konnte die Depression nicht von Traurigkeit unterscheiden. Hatte keine Ahnung, wie sich Suizidalität im Verhalten Betroffener andeutet, und hätte nicht gewusst, zu welchen Hilfseinrichtungen ich als Angehöriger hätte gehen können.

So viele Menschen suchen nun nach dem Tod von Dr. Lisa-Maria Kellermayr auch nach Ursachen und vor allem nach Schuldigen. Aber ein psychisches Problem taucht nicht aus heiterem Himmel auf. Die Einsamkeit von Menschen, die dann zu Traurigkeit, zu Depression und zu Suizidalität führt, entsteht über Jahre und deren Ursachen sind meist vielschichtig: Wenn wir in unserem Bildungssystem die Schwächen der Schülerinnen und Lehrlinge zum Thema machen, statt deren Stärken zu fördern. Wenn wir aus mangelnder Medienkompetenz auf Quellen vertrauen, die eben nicht sicher sind.

Verletzung der Psyche

Wenn wir zulassen, dass in der Öffentlichkeit stehende Menschen beleidigt, bedroht und gefährdet werden, und das damit begründen, dass sie sich das ja selbst ausgesucht hätten, überlassen wir dem Mob das Kommando, wer sich äußern darf. Wir lassen außerdem die Verletzung der Psyche der Betroffenen zu und die ihrer Angehörigen und Kinder.

Andererseits berichten wir aber viel zu selten über jene, die eine psychische Krise überwinden konnten, eine Sucht stabilisiert, ein Trauma hinter sich lassen oder eine Angst in den Griff bekommen haben. Wenn wir von Menschen hören oder lesen, die mit Narben und Schrammen trotzdem noch ihr Leben meistern, dann kann das zu einem positiven Nachahmungseffekt, dem „Papageno-Effekt“, führen. Aktuelle Umfragen zeigen, dass die Hälfte aller Lehrlinge an Depressionssymptomen leidet und an die 17 % der Schülerinnen wiederkehrende suizidale Gedanken haben.

Um nachhaltig etwas dagegen zu tun, müssen wir versuchen, über die Ursachen zu sprechen: Wir brauchen „Tage der psychischen Gesundheit“in Schulen, wo man lernt, wie man mit „Mobbing“umgeht, wo der Umgang mit Medien zum Thema wird, wo über Ängste, Depressionen, Sucht oder Suizidalität als Teil unseres Lebensalltags gesprochen wird.

Nur so können wir Fragen der psychischen Gesundheit enttabuisieren und Betroffene entstigmatisieren. Wir müssen das Wissen über psychische Gesundheitsfragen stärken. Für meinen Sohn kommt das zu spät. Aber anderen Töchtern und Söhnen kann dadurch das Leben gerettet werden.

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