„Ich trage das tödliche Schweigen nicht mit“

„Ich trage das tödliche Schweigen nicht mit“

Golli Marboe im Gespräch mit Uli Fricker, Erstveröffentlichung: Südkurier am 23. Mai 2022

Quelle: SÜDKURIER NR. 118

Herr Marboe, Ihnen ist das Schlimmste passiert, was einem Vater passieren kann: Sie haben Ihren Sohn verloren, Tobias hat sich 2018 umgebracht, er war 29 Jahre jung.

Das Leben ist nicht mehr wie früher. Dabei hatte ich eine große Gnade: Ich empfand nur Traurigkeit, keine Wut. Ich habe einen wichtigen Menschen verloren, ja. Doch richte ich meine Gedanken, auf den, der gegangen ist und nicht auf mich. Mein Bub ist weg, das ist es. Praktisch bedeutete das, dass wir alle durch eine Psychotherapie gegangen sind, also meine Frau, ich und unsere drei Kinder, und zwar jeder getrennt.

Warum das?

In der Nacharbeit ist es wichtig, dass jeder den Therapeuten findet, der zu ihm passt. Man kann den Therapeuten auch wechseln, wenn er nicht passt. Wichtig war, dass jeder von uns sagen konnte, was man wollte. In Zeiten, in denen die wertevermittelnden Institutionen immer mehr hinterfragt werden, sind Einrichtungen wie eine psychotherapeutische Praxis umso wichtiger. Auch sie bieten Halt.

Sie sind Katholik. Hat Ihnen das nicht auch Trost gegeben?

Doch. Ich bin kein extrem frommer Mensch. Doch habe ich regelmäßig stille Ecken in Wiener Kirchen aufgesucht in der Zeit nach dem Suizid. Die Theodizee-Frage habe ich mir nie gestellt, also „Warum kann er das zulassen?“ Es war einfach so.

Eine Selbsttötung wird häufig als Selbstmord bezeichnet.

Das ist eine sprachliche Ungenauigkeit, die an der Sache vorbeigeht. Wer durch einen Suizid aus dem Leben scheidet, befindet sich in tiefer Traurigkeit. Diese Menschen stecken in einer Psychose und können sich sozial nicht mehr artikulieren. Wenn man sie nun mit dem schlimmsten Verbrechen, das ein Mensch begehen kann, in Verbindung bringt – also einem Mord – dann ist das ungerecht und in der Sache daneben. Wir sollten von Suizid sprechen.

In welcher Jahreszeit nahm sich Tobias das Leben?

Das war an Weihnachten, am 26. Dezember 2018. Das Datum ist eher untypisch. Die meisten Suizide werden im Mai registriert. Also nicht im dunklen Herbst oder im familiären Dezember, sondern im vollen Frühjahr. Im Mai gehen die Menschen wieder raus und freuen sich an der Natur. Depressive fühlen sich in dieser Phase unverstanden. Während überall das Leben pulsiert sitzen sie in der Dunkelheit.

Haben Sie die Weihnachtstage damals gemeinsam verbracht?

Ja, Weihnachten ist bei uns ein großes Familienfest, da sind etwa 30 Leute bei uns versammelt. Es war auffällig, dass Tobias sehr introvertiert war. Er hatte damals seine eigene kleine Wohnung. Wir haben ihn eingeladen, ob er nicht wieder bei uns wohnen möchte. Dem hat er zugestimmt. Das war aber keine Rückkehr und Beruhigung, wie wir dachten. Es war die Ruhe vor dem Unglück. Zu diesem Zeitpunkt dürfte er schon gewusst haben, dass er sich das Leben nehmen wird. Ich bin heilfroh, dass es bei uns zuhause passiert ist und nicht irgendwo anonym.

In den vergangenen beiden Corona-Jahren sind vermehrt junge Menschen seelisch erkrankt. Sie tragen Blessuren davon.

Viele Kinder waren völlig isoliert. Die Eltern konnten ihnen oft nicht helfen. Jugendliche suchen Orientierung, und die fanden sie in den vergangenen zwei Jahren kaum. Gleichzeitig ist dieser Befund auch eine Anfrage an unser gesellschaftliches System: Es stellt Werte wie gutes Aussehen, Geld und Erfolg ganz nach oben. Aber ist das richtig so? Wir müssen umdenken, das steht für mich fest. Dann wird es auch weniger Traurigkeit geben.

Tobias arbeitete als Künstler?

Ja, und wie jeder Künstler wollte er Besonderes schaffen. Und jeder kennt die Momente, wo man an sich zweifelt. Bei Tobias war das ausgeprägt. Menschen, die nie über Suizid nachgedacht haben, sind für mich nicht interessant. Mit welchem Hochmut gehen sie durchs Leben!

Dann hatten Sie auch schon diese Gedanken?

Ja.

Das Sprechen über Suizide fällt schwer. Es ist ein Tabu. In Todesanzeigen wird es höchstens angedeutet. Seriöse Medien berichten kaum darüber, weil sie Nachahmer fürchten.

Diese Einstellung ist nicht mehr zeitgemäß. Die Betroffenen, die diese Gedanken in die Hand nehmen, finden sich nicht in den Medien wieder. Das halte ich für falsch. Sie fühlen sich unverstanden und werden erst recht zur Tat schreiten. Der Umgang mit dem Gedanken an Suizid ist wichtig – er wirkt verhindernd und nicht beschleunigend. Das belegen auch Untersuchungen der Medizinischen Universität Wien.

Das Buch: „Notizen an Tobias. Gedanken eines Vaters zum Suizid seines Sohnes.“ Residenz Verlag, 224 Seiten, 24 Euro.

Also besser sprechen als schweigen?

Man nennt es auch den Papageno-Effekt. Der Begriff lehnt sich an die Figur des Papageno in der „Zauberflöte“ an: An einer Stelle will sich Papageno das Leben nehmen. Da erscheinen ihm die drei Knaben und erinnern ihn daran, dass er noch das Glockenspiel hat, das ihn befreien kann. Sie ermächtigen ihn, sie erinnern ihn daran, dass er sich selbst befreien kann. So müssen auch wir handeln: Über dunkle Gedanken sprechen. Kein labiler Mensch wird sich das Leben nehmen, nur weil man ihn zuvor gefragt hat, ob er diese Absicht hat. Er braucht jemanden, der ihn fragt und seine Sorgen ernst nimmt.

Auf der Vorderseite des Buches sieht man eine Fotografie von Tobias. Er steht vor einer Mauer, auf der zwei große Flügel aufgemalt sind. Wie ein Engel. Das Foto wirkt wie eine Prognose.

Das Foto entstand in Jaffa in Israel, er stand auf einer großen Treppe. Aber sehen Sie genau hin: Über den Flügeln ist ein vergittertes Fenster. Wie ein Gefängnis wirkt das. Tobias war auch wie eingesperrt.

Ihr Erinnerungsbuch heißt „Notizen an Tobias“. Ist das als Brief gemeint?

Das war auch Selbsttherapie. Einige Tage nach seinem Tod schrieb ich die ersten Seiten nieder. Ich weiß natürlich nicht, ob ihn diese Zeilen jemals erreichen. Manchmal dachte ich, ich muss ihm schnell die Fußballergebnisse mitteilen, wir sind beide Fans von Rapid Wien. Schon in den ersten Tagen nach seinem Tod kamen Menschen auf mich zu und sprachen mich an. Sie berichteten von ähnlichen Fällen in ihren Familien. Alle endeten mit dem Satz: „Aber sag’s bitte niemand.“ Sie folgten dem klassischen Tabu, unter dessen Diktat die Selbsttötung bis heute steht. Man spricht nicht darüber. Das verstehe ich nicht, ich will das tödliche Schweigen nicht mittragen. Warum wird alles verheimlicht? Es ist doch wichtig, sich mit vertrauenswürdigen Menschen auszutauschen. Das Schweigen bringt nichts, es macht uns nur krank.

Zur Person

Golli Marboe, 56, lebt mit seiner Familie in Wien. Er arbeitet als Journalist und Dokumentarfilmer, früher auch als Filmproduzent. Außerdem setzt er sich in einem eigens gegründeten Verein für den vernünftigen Umgang mit Medien ein. In der Medienszene in Österreich, in der jeder fast jeden kennt, ist Marboe bekannt und beliebt – ein Charmeur und Menschenfreund. Der jähe Tod seines Sohnes hat ihn und das Leben der Familie völlig verändert. (uli)

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Der Papageno-Effekt

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Notizen an Tobias - Gedanken eines Vaters zum Suizid seines Sohnes - Vortrag mit Golli Marboe