Warum wir über Suizide reden sollen

Warum wir über Suizide reden sollen

Gastkommentar von Golli Marboe, Erstveröffentlichung: Die Presse am 04. August 2022

Der Tod von Lisa-Maria Kellermayr zeigt auch, wieso es mehr Aufklärung und Hilfe bei psychischen Belastungen braucht.

Viele Jahre wurde aus gut gemeinter Sorge nicht über Suizide berichtet: Man hatte Angst vor dem sogenannten Werther-Effekt, die Darstellung von Tötungsmethoden und Ähnlichem sollte keinesfalls zur Nachahmung anregen.

Nun aber hat vor etwas mehr als zehn Jahren die Medizinische Universität Wien nachweisen können, dass eine achtsame und angemessene Berichterstattung über Suizide sogar einen gegenteiligen Nachahmungseffekt, einen Präventionseffekt, auslösen kann. Wenn man von Menschen liest, die suizidale Krisen überwinden konnten, wenn man von psychisch belasteten Persönlichkeiten hört, die einen Weg gefunden haben, damit zu leben.

Beim Verein Lichterkette stehen „Erfahrungsexpertinnen“ (Menschen, die selbst eine psychische Krankheit hinter sich oder damit zu leben gelernt haben) zum Dialog zur Verfügung. Zu einem Dialog, in dem das Wissen über erste Anzeichen von psychischen Krankheiten oder schwerwiegenden Symptomen mit der natürlichen Autorität von Betroffenen beschrieben wird.

Die Öffentlichkeit ist dieser Tage auf der Suche nach „Schuldigen“ am Tod von Lisa-Maria Kellermayr. Aber warum suchen wir überhaupt nach Schuld? Damit wir „exkulpiert“ sind? Damit wir als Gesellschaft keine Mitverantwortung übernehmen müssen? Tatsächlich ist es so, dass es auf Probleme psychischer Art in den seltensten Fällen nur die eine Begründung gibt. Meist spielen etliche Faktoren eine Rolle. Es ist nach wie vor so, dass man über psychische Gesundheit nicht einmal im Freundes- und Verwandtenkreis gern spricht.

Ich selbst bin ein Hinterbliebener. Mein Sohn hat sich als junger Erwachsener das Leben genommen. Vom ersten Tag nach der Tragödie bis heute kommen Menschen auf mich zu, berichten von ähnlichen dramatischen Vorfällen in deren Umfeld. Und nahezu alle diese Vertrauensbekundungen enden mit dem Satz: „Aber bitte sag es niemandem!“

Man stelle sich vor, dass man ja eh keine Kraft besitzt, wenn ein naher Mensch schwer krank ist oder sich das Leben genommen hat. Und von dieser nicht vorhandenen Kraft wird dann auch noch ein beträchtlicher Teil dafür verwendet, das Thema zu verstecken, zu verschleiern.

Das Gegenteil wäre hilfreich. Wenn Hinterbliebene, Erfahrungsexpertinnen, wir alle viel offener über Mental Health sprechen würden. Leider trifft sich dieser Mangel an Mental Health Literacy, also an Wissen über psychisches Wohlbefinden, mit einer verantwortungslosen Kommunikation in sozialen Medien.

Würde nicht verletzen

Denken Sie an jene Menschen, die auf Twitter, Instagram etc. zwar vielleicht gar nicht aktiv an den Beschimpfungen, Ausgrenzungen etc. teilnehmen, diese aber mitlesen. Kinder von attackierten Politikerinnen, Eltern von beschimpften Ärztinnen, Angehörige und Freunde von Menschen, die ob ihrer Überzeugungen erniedrigt werden. Alles unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit . . .

Selbstverständlich gilt es nun an einer Verbesserung der Strukturen zu arbeiten, die besser dazu angetan sind, einen tragischen Tod wie jenen von Lisa-Maria Kellermayr zu verhindern. Vor allem aber gilt es an unserem gesellschaftlichen Klima zu arbeiten: Damit in den Schulen Talente gefördert werden; damit Mental Health Literacy zur Allgemeinbildung wie Lesen und Schreiben wird; damit kein Unterschied mehr zwischen physischer und psychischer Gesundheit gemacht wird; damit Kinder keine Beschimpfungen über deren Eltern in den Medien mehr lesen müssen – und nicht zuletzt, damit auch die Würde verstorbener Menschen nicht verletzt wird.

ZUM AUTOR

Golli Marboe (* 1965) war TV-Produzent und ist u. a. Obmann des Vereins VsUM (Verein zur Förderung eines selbstbestimmten Umgangs mit Medien).

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