„Einfach nur da sein“

„Einfach nur da sein“

Betroffenes Elternpaar und Psychologe sprechen über den Umgang mit Trauer und Schuldgefühlen nach einem Suizid.

Artikel von Josef Laner, Erstveröffentlichung: der Vinschger am 12. April 2022 / Publiziert in 7 / 2022

Im Bild (v.l.): Monika Gasser (Verein Lichtung), Christine und Walter Schullian, Moderator Hans Schwingshackl und der Psychologe Anton Huber.

Schlanders - Einiges hat sich zwar verbessert, aber es ist zum Teil noch immer schwierig, frei und ohne Tabus über das Thema Suizid zu sprechen. Oft sind es Schuld- und Schamgefühle, die Verwandte und Freunde von Suizidopfern daran hindern, offen zu reden, Hilfe zu suchen oder sich mit anderen auszutauschen. Nicht so Christine und Walter Schullian aus Kaltern. Andreas, einer ihrer zwei Söhne, geboren 1982, war am 1. März 2011 durch Suizid gestorben. „Für uns war sofort klar, dass wir nichts verstecken möchten. Schon in der Kirche sollte darüber geredet werden“, sagte das Ehepaar kürzlich bei einem Gesprächsabend zum Thema „Suizid - Gehen ohne Abschied“ in der Aula Magna der Mittelschule Schlanders. Auch den Psychologen Anton Huber, der im Krankenhaus Bruneck den Bereich Krankenhauspsychologie koordiniert, hatte der Verein Lichtung in Zusammenarbeit mit der KVW-Ortsgruppe Schlanders und mit KVW Bildung zum Abend eingeladen. Moderiert hat Hans Schwingshackl.


„Mit sich selbst nie zufrieden“

Offen, ehrlich und mutig zeichneten Christine und Walter das Leben ihres Sohnes Andreas nach. Schon als Kind habe er unerklärliche Ängste gehabt und alles hinterfragt. Während des Maturajahrs habe ihn die Frage umgetrieben, was er nachher tun soll „und sagte zum ersten Mal: ich brauche Hilfe“, so Walter Schullian. Andreas begann, in Innsbruck zu studieren, fiel aber nach rund 9 Monaten in eine Depression. Er brach das Studium ab und absolvierte verschiedene Praktika, u.a. in einer Bücherei und Gärtnerei. Walter: „Alle waren mit seinen Arbeiten zufrieden, er aber war mit sich selbst nie zufrieden.“ 2004 unternahm er einen Suizidversuch, den er ohne schlimmere Folgen überlebte. Später nahm er mit Begeisterung ein zweites Studium in Angriff, steckte seine hohen Anforderungen an sich selbst aber nicht zurück. Christine: „Ich habe ihm oft gesagt: Niemand zwingt dich, so gut zu sein, nur du selbst.“ Andreas sei es nicht gelungen, die hohen Ansprüche an sich selbst herunterzufahren: „Er wollte immer in allem perfekt sein und hatte Angst, nicht zu entsprechen.“


„Wir taten, was wir konnten”

Der Suizid von Adreas am 1. März 2011 stellte das Leben seiner Familie vollständig auf den Kopf. Auf die Frage von Hans Schwingshackl, ob auch Schuldgefühle aufkamen, stimmten Christine und Walter überein: „Wir haben getan, was wir konnten und als Eltern alles versucht, um unserem Sohn zu helfen.“ Von insgesamt 12 verschiedenen Therapeuten war Andreas behandelt worden, unter anderem auch mit Medikamenten. „Der Schock nach dem Suizid war gewaltig und unfassbar“, sagte Christine. Ohne die Nachbarn, das gute soziale Umfeld und die Freunde wäre es kaum möglich gewesen, diese schwere Phase zu überbrücken.


Kraftquellen suchen

Das soziale Umfeld sei wie ein Sprungtuch gewesen, „in das wir hineinfallen durften und das uns auffing.“ Das Wichtigste sei gewesen, „dass Menschen unsere Nähe suchten und einfach da waren.“ Was es in solchen Situationen hingegen nicht brauche, „sind Mutmaßungen und Ratschläge, denn sie können wie wirkliche Schläge sein.“ Noch mehr gelte das für Verurteilungen. „Niemand hat das Recht zu urteilen“, hat der damalige Dekan Erwin Raffl bei der Beerdigung von Andreas gesagt. Was die Trauer betrifft, so sei diese laut Christine und Walter ebenso zuzulassen wie die Art und Weise von Trauer: „Alle trauern auf ihr Art, Frauen oft anders als Männer.“ Auch Auszüge aus den zwei Abschiedsbriefen von Andreas lasen sie vor. Im zweiten Brief schriebt Andreas: „Ich bin unendlich einsam“. In der Einsamkeit sieht der Psychologe Anton Huber eines der größten Probleme unserer Gesellschaft überhaupt. Viele Menschen kommen mit dem allgegenwärtigen Leistungs- und Erfolgsdruck nicht zurecht: „Alle wollen perfekt sein, schön, intelligent, super und erfolgreich.“ Viele hätten Angst, sich so zeigen, wie sie sind. Gefühle und Emotionen werden oft unterdrückt. Laut Huber dürfe nicht alles dem Erfolg untergeordnet werden. Suizide geschehen oft auch aus einem Impuls heraus: „Die Ursache ist oft nicht in irgendetwas Schlechtem aus der Kinderzeit zu suchen.“ Das Aufgehobensein in der Familie und in der Gemeinschaft sei enorm wichtig: „Jeder Suizid ist eine Watsche für die Gesellschaft.“


„Trauer ist Schwerstarbeit”

„Trauer ist Schwerstarbeit. Die Vielfalt der Gefühle reicht von Ohnmacht, Wut und Leere bis zu Schuld und Scham“, so der Psychologe. Die Frage nach dem Warum könne den Trauerprozess für lange Zeit blockieren. Anton Huber dankte dem Ehepaar Schullian für den Mut, offen über ihre Erfahrungen zu reden und damit Menschen, die ähnliches Leid erfahren, zu helfen. Auch das sei Präventionsarbeit. Die Prävention ist eines der wichtigsten Tätigkeitsfelder des Vereins Lichtung. Der Verein wurde 1997 als eine landesweite Interessenvertretung für Menschen mit psychischen Erkrankungen gegründet. Ziel ist es, sich für die Anliegen dieser Menschen einzusetzen und ihnen ergänzend zu den medizinischen und sozialen Diensten konkrete Unterstützungsangebote zur Verfügung zu stellen. Dazu gehören vor allem: Selbsthilfe, Freizeitaktivitäten sowie kunst-therapeutisch Angebote. Der Verein hat seinen Sitz in Bruneck (Tel. 0474 53 02 66; E-Mail: info@lichtung-girasole.com).


Eine Frage des gesellschaftlichen Klimas

In einem Nachgespräch zitierten Christine und Walter als weiteren Betroffenen Ernst Leo „Golli“ Marboe, Medienexperte aus Wien. Er hat als Vater des 29-jährigen Tobias im Jahre 2018 dasselbe Schicksal erfahren und öffentlich gesagt: „Suizid ist nicht nur Privatsache der Betroffenen und ihrer Angehörigen, sondern eben auch eine Frage des gesellschaftlichen Klimas”.


Suizidprävention

Seit 2017 gibt es ein landesweites Netzwerk zur Suizidprävention. Das Netzwerk setzt sich aus über 20 gemeinnützigen Organisationen und öffentlichen Einrichtungen zusammen und wird von der Caritas koordiniert. Wer dringend Hilfe benötigt, kann sich direkt an die Caritas Telefonseelsorge wenden: sie ist täglich, auch sonn- und feiertags erreichbar: Tel. 0471 052 052 oder online unter telefonseelsorge-online.bz.it (Erstantwort innerhalb von 48 Stunden). Für junge Menschen bietet Young+Direct Beratung und Begleitung an: Tel. 0471 155 155 1, über Whatsapp unter der Nummer 345 081 70 56 (Montag bis Freitag von 14:30 bis 19:30 Uhr) und via Email (online@young-direct.it oder auf www.young-direct.it/de/young-direct/beratung/). Neben der Notrufnummer 112 und der Caritas Telefonseelsorge kann man sich auch an diensthabende Hausärzte, an die Psychologischen Dienste und Zentren Psychischer Gesundheit (Schlanders Tel. 0473 736690) wenden. Laut Roger Pycha (Primar der Psychiatrie Brixen, wissenschaftlicher Leiter der Europäischen Allianz gegen Depression in Südtirol und Koordinator des Hilfsnetzwerks PSYHELP) sinkt die Suizidrate in Südtirol konstant seit 1990. Das sei auch dem psychiatrischen und psychosozialen Netz zu verdanken, „das seit 2000 ausgebaut wird und weiter verbessert werden muss.“

Josef Laner

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