Wir müssen reden

Wir müssen reden

Depressionen und Suizid sind in unserer Gesellschaft immer noch Tabuthemen. Warum sich das im Sinne von Prävention und Heilung dringend ändern sollte.

Essay von Golli Marboe, Erstveröffentlichung: DATUM 03/22

Golli Marboe hat 2021 ein Buch über den Suizid seines Sohnes veröffentlicht. „Notizen an Tobias“ ist im Residenz-Verlag erschienen.

In sogenannten ›normalen‹ Jahren – jenen vor Covid – gab es die meisten Suizide weder im dunklen Herbst noch rund um Weihnachten, sondern im Mai. Im Frühling, wenn die sogenannten gesunden Menschen wieder ins Freie gehen, Feste feiern und sich frisch verlieben.

In solchen Tagen fühlen sich depressive und sozial zurückgezogen lebende Menschen noch unverstandener, noch einsamer als sonst eh schon. Dann entstehen aus Depressionen viel zu oft auch Suizidgedanken.

Wie mag das in absehbarer Zeit werden, wenn die Covid-Maßnahmen zurückgenommen werden und also nach der langen Zeit der Einschränkungen eine Art ›gesellschaftlicher Mai‹ auf uns zukommt? Wie geht es dann all jenen, die gerade in der Corona-Zeit einsam geworden sind, sich psychisch belastet fühlen?

Als Verstärker wirkt dabei die Angst vor dem sogenannten ›Werther-Effekt‹.

Die gutgemeinte Idee, über Suizide aus Angst vor Nachahmung nicht zu berichten, lässt Menschen in Krisensituationen noch einsamer werden. Denn auch wenn sich Depressive aus ihrem sozialen Umfeld zurückziehen, Medien konsumieren sie weiter. Wenn dann aber über ihre Ängste und Sorgen nicht berichtet wird, dann wirkt das wie ein ›Brandbeschleuniger‹ für das Gefühl, unverstanden und alleine zu sein. Nicht zuletzt, um diesem Dilemma zu begegnen, wurde an der Medizinischen Universität Wien vor knapp zehn Jahren der ›Papageno-Effekt‹ erforscht und nachgewiesen: Bei einer achtsamen Kommunikation über Suizide und psychische Gesundheit kommt es nicht nur zu keinem Nachahmungseffekt, sondern eine solche Medienpräsenz zu Fragen der psychischen Gesundheit kann sogar präventiv wirken!

Es darf keine Hierarchie zwischen physischer und psychischer Gesundheit geben. Sollte sich jemand beim Skifahren verletzen, dann zögert niemand auch nur eine Sekunde, die Person zum Arzt zu bringen. Aber wie agieren wir als Angehörige, als Freunde, als nahe Menschen, wenn in unserem Umfeld jemand für längere Zeit traurig und introvertiert wirkt oder sich einfach anders als sonst benimmt, sich aus dem eigenen Freundeskreis zurückzieht, sich keine Zeit mehr für Freizeitbeschäftigungen nimmt? Gehen wir dann auch zum Arzt? Lassen wir uns oder den Kindern einen ›Gips für die Seele‹ verpassen? Nein, wir ziehen uns zurück. Wir hoffen darauf, dass sich dieser Mensch schon wieder findet. Durch Ruhe, durch besseres Wetter – jedenfalls aus sich selbst heraus.

Warum missverstehen wir Depressionen oder psychotische Schübe immer noch als ›Launen‹, als ›Seelenblähungen‹? Was ist so schwierig daran zu akzeptieren, dass auch diese Beschwerden, die man nicht an klaffenden Wunden erkennt, trotzdem lebensbedrohende und unbedingt von Profis zu behandelnde Krankheiten sind?

Gerade in Momenten des ›Tunnelblickes‹, wenn man neben den eigenen Sorgen die restliche Welt gar nicht mehr wahrnimmt, brauchen depressive oder suizidale Menschen Hilfe von außen. ›Denkst du daran, dir das Leben zu nehmen? Hast Du Suizidgedanken?‹

Noch nie hat sich ein Mensch wegen dieser Fragen das Leben genommen. Diese Fragen sind kein Trigger für einen Suizid, ganz im Gegenteil: sie zeigen Empathie. Sie signalisieren, dass man sich der Tragweite des Leids der betroffenen Tochter, des Vaters, der Freundin oder des Arbeitskollegen bewusst ist. Diese Fragen können ein erster zarter Lichtstrahl im dunklen Tunnel sein.

Dann aber dürfen wir uns selbst nicht überschätzen. Gerade Eltern sollten nicht glauben, dass allein durch ihre Hilfe das eigene Kind aus einer psychotischen Krise herausfindet. Wir alle erinnern uns doch, dass wir als junge Erwachsene ganz bestimmt nicht alle unsere Sorgen mit den Eltern geteilt hätten. Warum glauben wir dann, dass unsere Kinder das nun mit uns tun würden? Die Selbsteinschätzung, niemand kenne das eigene Kind so gut wie Vater oder Mutter, mag in manchen Bereichen zutreffen, aber ganz bestimmt nicht im Hinblick auf den Umgang mit psychischer Gesundheit.

Für das Öffnen der Seele braucht es ›sichere Orte‹. Orte bei Menschen, von denen klar ist, dass kein Gespräch, kein einziger Gedanke diesen Raum verlassen wird. Orte, an denen man ohne Angst vor Mobbing, vor Mildtätigkeit, vor übermäßiger Anteilnahme und nicht zuletzt vor Tratsch sprechen kann. Eltern können Kinder unterstützen, ihre Söhne und Töchter zum Arzt, zur Therapie bringen und sie können Sicherheit geben: Was soll daran ›peinlich‹ sein, an sich selbst zu zweifeln? Was könnte daran ›schlecht‹ sein, sich anders zu fühlen, als der Mehrheitsgeschmack das vorgibt? Die Suche nach einer eigenen Persönlichkeit, die Suche nach Orientierung. Dabei kommt man in Krisen, fühlt sich allein. Und wenn man sich zu allein fühlt, dann ist das eben wie ein Skiunfall. Dann braucht man Hilfe.

“In der Gruppe der Menschen bis 30

stellt Suizid die zweithäufigste

Todesursache dar.”

Und Eltern brauchen dann den Mut, sich bei den eigenen Kindern unbeliebt zu machen. Indem sie trotz drohendem Liebesentzug Themen ansprechen, die ihnen Sorgen machen. Denn die Alternative ist keine Option: Täglich nehmen sich in Österreich drei Menschen das Leben, drei Mal so viele, wie im Straßenverkehr sterben. Und in der Gruppe der Menschen bis 30 stellt Suizid die zweithäufigste Todesursache dar. Hinter der Kategorie ›Unfälle‹, wobei man bei manchem Berg- oder Autounfall leider durchaus ebenfalls einen suizidalen Hintergrund vermuten muss.

In der ersten Sitzung nach dem Suizid meines Sohnes Tobias sagte der Therapeut zu mir: ›Ihr Sohn könnte noch leben. Er hätte nur die richtigen Medikamente gebraucht.‹ Psychopharmaka machen heute nicht mehr dumpf. Im Gegenteil, von einem Arzt entsprechend eingestellt, ermöglichen diese die wahre Persönlichkeit und das tatsächliche Wesen der betroffenen Person wieder sichtbar zu machen. Hätte ich nur mehr gewusst über Symptome von starken Depressionen, von Anzeichen für die Gefahr von psychotischen Schüben … Ich hätte meinen Buben so lange bedrängt, bis er mit mir zum Arzt gegangen wäre.

Hätte Tobias, aber eben auch ich den Mut gehabt, um Hilfe zu bitten, und die Kraft, uns helfen zu lassen. Nun kann ich ihm nur mehr in Erinnerungen begegnen.

Und das ist schön. Ich bemühe mich, den Alltag so zu leben, wie das Eltern tun, deren Kinder noch leben. Auch sie sind im schönsten Sinne von jenen Bildern berührt, die wir alle kennen: die Erinnerung an den ersten Schultag, das Schwimmen ohne Flügerln oder die Willkommensumarmung bei der Rückkehr nach einer längeren Reise.

All diese bewegenden Momente lassen sich nicht wiederholen. Diese Bilder schöner Erinnerungen habe auch ich.Und vor allem: Kein Mensch sollte auf die Art der Todesstunde reduziert werden, sondern durch all die vielen Aspekte eines vollen Lebens weiter bleiben.

Tobias war Künstler, und neben vielen anderen Tätigkeitsfeldern, wie der Malerei, der Musik oder der Welt des Designs, hat er auch einen Instagram-Kanal bespielt: ›Die Hoffnung stirbt nicht zuletzt, weil die Hoffnung gar nicht sterben kann‹, war dort unter anderem von ihm zu lesen. Was für eine Aufforderung an uns Hinterbliebene. Nicht einmal der Tod eines Kindes soll uns die Hoffnung verbieten. Kein Unglück kann so groß sein, dass man nicht im tiefsten Inneren den Wunsch hätte, sich irgendwo, irgendwann, irgendwie wieder zu begegnen.

Warum soll man sich damit nicht trösten? Warum sollte man Hoffnung nicht zulassen? Man hat als Hinterbliebener kaum noch Energie, das eigene Leben auch nur irgendwie zu meistern. Warum sollte man also diese wenige Kraft dafür verschwenden, das zu bekämpfen, was ein ganz klein wenig trösten könnte?

Eine Bitte zum Ende: Streichen Sie das Wort ›Selbstmord‹ aus Ihrem Wortschatz. Bringen Sie jene Menschen, die in tiefer Traurigkeit und Verzweiflung einfach keinen Ausweg mehr für ihre Existenz sehen, nicht mit dem schwersten Verbrechen in Verbindung, zu dem ein Mensch fähig ist. Mein Sohn war kein Mörder. •


Der Autor empfiehlt die folgenden Hilfseinrichtungen:

Telefonseelsorge 142

(täglich von 0:00 bis 24:00 Uhr)

Kriseninterventionszentrum Wien

01 / 406 95 95 (Mo–Fr 10–17 Uhr)

Rat auf Draht 147

(Beratung für Kinder und Jugendliche)

Psychosozialer Notdienst

01 / 31330

(täglich von 0:00 bis 24:00 Uhr)

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