Warum wir über Traurigkeit reden müssen

Warum wir über Traurigkeit reden müssen

In seinem Buch „Notizen an Tobias” macht sich der Journalist Golli Marboe Gedanken über den Freitod seines Sohnes. Heute erzählt er uns seine Erfahrungen auch vier Jahre danach und möchte dazu beitragen, das Thema Suizid zu enttabuisieren.

Von Golli Marboe, Erstveröffentlichung: LebensZeit, November 2022

Die türkisen Dekosteine funkeln am Grab von Tobias – ein bisschen so, als ob man auf einen See schaut und die Sonne sich in den Wellen spiegelt. Tobias war sehr gerne am Attersee und am Meer. Viele gemeinsame Stunden sind in Erinnerung. Erinnerungen, die wohl fast alle Eltern kennen – unwiederbringliche, unwiederholbare Momente –, die ersten Schwimm- versuche ohne „Flügerln“, Karten- spielen am Strand, das italienische Eis, ... so schön, dass man das erleben konnte.

Eltern, deren Kinder noch leben, bekommen Tränen des Glücks, wenn sie an derartige vergangene Augenblicke zurückdenken. Warum sollte ich das anders handhaben?

Warum sollte ich mich nicht voller Freude daran erinnern, dass wir gemeinsam gelebt haben und so Vieles uns verbindet.

Natürlich ist es wider die Natur, dass Eltern nicht nur den Geburts- tag, sondern auch das Sterbedatum des eigenen Kindes kennen müssen. Aber warum sollte man die Erinnerung an jene Menschen, die schon gegangen sind, auf den Tag des Todes, auf den Schmerz, auf den Verlust reduzieren?

Diese gemeinsamen Stunden und Erlebnisse, die natürlich noch viel mehr hätten sein können – hätten sein sollen –, die bleiben in mir. Aber so sehr ich mich auch bemühe, diese so abzulegen, wie das Eltern tun, deren Kinder noch leben – sie werden immer auch einen Schmerz in sich tragen.

Einen Schmerz, den wir Trauer nennen. Dieser Schmerz des Verlustes eines so vertrauten und nahen Menschen – ich wüsste nicht, wie der vergehen sollte. Aber warum auch?

Diese Redensart, dass man „Trauer irgendwann ablegen müsste“ scheint mir so völlig absurd! Wie könnte ich?
Denn es wird immer eine bitter- süße Erinnerung bleiben. Genauso, wie man ja übrigens auch mit den lebenden Kindern in der Regel in einer Beziehung steht, die zwi- schen Freude und Sorge hin und herpendelt. Die Ambivalenz, die Unsicherheit, das Unvorhersehbare ... das ist doch ganz normal. Wieso sollte denn dann meine Erinnerung an ein bereits verstorbenes Kind irgendwie eindeutig und damit entweder frei von Schmerz oder von Freude sein?

Jedenfalls bleibt die Trauer um den Tod meines Sohnes ganz bestimmt bis zum Ende meines eigenen Lebens Teil von mir. Damit muss meine Umwelt entweder umgehen lernen, oder mir ausweichen. Beides kommt übrigens vor. Denn inzwischen, bald vier Jahre nach Tobias Suizid, spüre ich beim einen oder anderen Visavis den unausge- sprochenen Gedanken: „Jetzt ist es aber langsam gut, der Tod ist doch schon eine Zeit her, der Golli sollte langsam wieder sein wie früher ...“ Nein – ich werde nie wieder wie

früher sein. Trauer ist nichts, was man ablegen sollte. Schon weil man die verstorbenen, geliebten Menschen doch nicht ablegen kann! Und dann höre ich andere recht oft zu mir sagen: „Denke daran, Du hast ja noch drei andere Kinder ... konzentriere Dich auf die!“ Selbstverständlich liebe ich alle vier Kinder. Mir ist allerdings nicht nachvollziehbar, warum man ein lebendes Kind mehr oder weniger lieben sollte, als ein verstorbenes?

Es gibt zahlreiche Menschen, die fühlen sich – ob bewusst oder unbewusst – durch Hinterbliebene irgendwie belästigt: Wir sind lebende Zeichen der Verwundbar- und Endlichkeit des Menschen. Das passt nicht in eine Gesellschaft, die immer jünger, schöner und reicher werden soll. Das passt nicht in einen Alltag, der sich so gibt, als hätte das Leben kein Ende. So gibt es etliche Bekannte, die nach den „passenden“ Worten suchen, wenn es ums Kondolieren geht: Sie denken, sie müssten den Hinterbliebenen das Unglück des Todes erklären, eine Begründung liefern, einen Sinn geben, ... und weil das natürlich nicht gelingen kann, verzichten manche dann gänzlich sich zu melden.

Aber wer in solchen Schicksalsmomenten keine Karte schreibt, kein SMS schickt oder keine Suppe vor die Tür der Hinterbliebenen stellt, der oder die beendet die Freundschaft mit den Angehörigen auf immer.

Tobias Marboe war ein begabter Künstler.
Im Buch sind vieler seiner Werke abgebildet.

Wie könnte man denn dann – so- bald man einander wiedersieht – zur Tagesordnung übergehen, wenn man gerade im Angesicht der schlimmsten Katastrophe, die jemand auszuhalten hat, als Freund, als Freundin nicht da war?

Verlust, Schmerz, Verwundung und die sich daraus ergebende Trauer sind Teil unseres Lebens.

Niemand bleibt verschont von Krankheit, Unfall oder einer anderen existentiellen Krise. Darüber müssen wir sprechen. Darüber dürfen wir sprechen. Auch ganz öffentlich und nicht nur in versteckten, die Welt nicht belästigenden Räumen. Das beginnt beim Kondolieren, das geht über das Verweigern von Small Talk und Tratsch und das mündet schließlich im Bekenntnis zur Hoffnung.

Denn bei aller Trauer möchte ich auf ein Wiedersehen mit meinem Buben hoffen. Was für ein wahres Glück würden wir dann wohl empfinden, wenn Tobias und ich uns je einmal wieder und in welcher Form auch immer wieder in den Armen liegen.

Hier gibt es Unterstützung

Wenn Sie Hilfe benötigen oder jemanden kennen, der Suizidgedanken hat, wenden Sie sich bitte an diese Stellen:

Telefonseelsorge

T 142, täglich 0-24 Uhr telefonseelsorge.at

Kriseninterventionszentrum

T 01 406 95 95,
Montag bis Freitag 10 bis 17 Uhr kriseninterventionszentrum.at

Sozialpsychiatrischer Notdienst
T 01 313 30, täglich 0-24 Uhr psd-wien.at

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