„Sprechen Sie miteinander!“

„Sprechen Sie miteinander!“

Golli Marboe im Gespräch mit dem Brixner, Erstveröffentlichung: Brixner am 29. September 2022

INTERVIEW: Der Journalist und Autor GOLLI MARBOE schrieb nach dem Suizid seines Sohnes das Buch „Notizen an Tobias“. Sein Appell an Menschen, die an Suizid denken, und an Hinterbliebene: Darüber ins Gespräch kommen, denn Selbsttötung darf kein Tabuthema sein.

Wie sehr Golli Marboe mit seinem Buch und seiner Haltung den Nerv der Zeit trifft, wurde einmal mehr an einem Freitagabend im September klar, als der österreichische Journalist und Medienexperte im Rahmen der Vortragsreihe „Together Against Suicide“ anlässlich des Welttages der Suizidprävention in der Stadtbibliothek Brixen zu Gast war. 50 Menschen waren gekommen und folgten seinen emotionalen und bewegenden Schilderungen über sein Buch sowie seinen Gedanken zum Suizid seines Sohnes. Dabei zeigte er auch eines der Werke seines Sohnes, einem Künstler, und war für die anschließenden Wortmeldungen aus dem Publikum offen. Bereits vor der Lesung nahm sich Golli Marboe Zeit für ein Gespräch mit dem „Brixner“.

Herr Marboe, wer hat Sie nach Brixen zur Veranstaltungsreihe eingeladen, und wie ist es dazu gekommen, dass Sie dort Ihr Buch vorstellen?

GOLLI MARBOE: Es gibt im Großraum Brixen eine engagierte Suizidpräventionsgruppe, von der sich Marlene Kranebitter zusammen mit der Stadtbibliothek an meinen Verlag gewendet hat. Sie sind auf mich aufmerksam geworden, da ich bei einer Sendung des Radiosenders Ö3 zu Gast war und dort über unsere Familiengeschichte berichtet habe, wobei meine Art und Weise zu berichten als interessant empfunden wurde.

Was waren die Beweggründe, den Suizid Ihres Sohnes in Buchform zu verarbeiten und zu veröffentlichen?

Kurz nach dem Tod meines Sohnes sind fast jeden Tag Menschen auf mich zugekommen und haben Mitgefühl und Verständnis ausgedrückt, da in ihren Familien auch Suizide stattgefunden haben oder es Menschen mit psychischen Problemen gibt. Und alle diese Vertrauensbekundungen an uns haben mit dem Satz geendet: Aber bitte sagt es niemand! Mir war nicht klar, warum nach solchen Tragödien, die sehr viel Kraft kosten, die Menschen noch Energie aufbringen, diese Erlebnisse zu verheimlichen. Zudem habe ich angefangen, als persönliche Verarbeitung Notizen an Tobias zu schreiben – da ich ja nicht weiß, ob er dort, wo er jetzt ist, noch alles erfährt. Bei der Beschäftigung mit dem Thema bin ich darauf gekommen, dass es neben dem Werther-Effekt, der als Orientierungshilfe bei Journalisten gilt, auch den in Wien belegten Papageno-Effekt gibt.

Was kann man darunter verstehen?

Der Werther-Effekt geht auf Johann Wolfgang von Goethe zurück und die Sorge einer Nachahmung, wenn über Suizide geschrieben wird. Der Papageno- Effekt bezieht sich auf die „Zauberflöte“, in der Papageno, der sich in einer suizidalen Krise befindet, drei Knaben zu Hilfe kommen und ihn an sein Glockenspiel erinnern, das ihn aus seiner misslichen Lage wieder befreien kann. Der Papageno-Effekt bedeutet also Hilfe von außen zur Selbstermächtigung von Betroffenen, also von Menschen, die Suizidgedanken haben. In einer Zeit, in der ein durchschnittlicher Europäer oder eine durchschnittliche Europäerin acht bis zehn Stunden am Tag mit Medien verbringt, ist es absurd, dass wir uns diesen potenziellen Anknüpfungspunkt an sozial zurückgezogene Betroffene aus gut gemeinter Sorge entgehen lassen. Es müssen ganz im Gegenteil in kompetenter und achtsamer Form diese Kommunikationstools von Print, Radio, Fernsehen bis zu den sozialen Medien genutzt werden, um über Depressionen, psychisches Wohlbefinden und Suizidalität zu berichten – insbesondere, da es sich um ein sehr verbreitetes Phänomen handelt. Durch die Schilderung kann eine Sensibilisierung stattfinden und die Achtsamkeit in der Gesellschaft für psychische Probleme erhöht werden. All dies zusammen war der Motor, das Buch „Notizen an Tobias“ zu schreiben. Zudem ist mir noch besonders wichtig zu erwähnen, dass mein Sohn Künstler war. Es hat eine Rolle gespielt, dass er seine Kunst nicht ausreichend für seine materielle Grundsicherung nutzen konnte. In meinem Buch findet die Kunst meines Sohnes ihren Platz und eine Verbreitungsmöglichkeit.

Golli Marboe sprach über den Suizid seines Sohnes Tobias und die Notwendigkeit von Prävention 

Foto: Oskar Zingerle

Worin sehen Sie die Ursachen für psychische Erkrankungen in unserer Gesellschaft?

Die Suche nach den gesellschaftlichen Ursachen für psychische Erkrankungen und Suizide beschäftigt mich seit ein paar Monaten stärker. Es braucht meiner Meinung nach ein gerechtes Wirtschaftssystem, eine Verbesserung der Medienkompetenz und eine Veränderung des Schulsystems. Dort sollen Talente gefördert und nicht Schwächen zum Thema gemacht werden. Wir brauchen eine Gesellschaft, in der das Fragen, das Suchen und das Finden auch seinen Platz hat und nicht nur das Ankommen. Es gehört zudem die Postvention verbessert: Dort kann ich in der Rolle des Hinterbliebenen Trauer und Trauerprozesse beschreiben, um eine Orientierungshilfe zu geben. Aber der Hauptfokus muss sein, dass wir ein anderes Miteinander gestalten, um der Vereinsamung und sozialen Kälte vorzubeugen.

„Der Hauptfokus muss sein, dass wir ein anderes Miteinander gestalten, um der Vereinsamung und sozialen Kälte vorzubeugen“ - Golli Marboe

Warum trauen wir uns nicht, offener über das Thema zu sprechen? In Österreich versterben dreimal so viele Menschen durch Suizid als im Straßenverkehr ...

Dazu kommen je nach Studie zehn bis 20 Suizidversuche pro vollendetem Suizid. Wenn nun noch das Umfeld der Personen hinzugerechnet wird, kann man sich ungefähr die Epidemie vorstellen, die im gesamten DACH-Raum und natürlich auch in Südtirol passiert. Bei zwei Fällen in Österreich, über die medial groß berichtet worden ist, ging es den Kommentierenden darum, Antworten auf die Frage zu finden, warum dies passiert ist. Das Suchen und das Festlegen eines fixen Grundes verschleiert die Tatsache der vielfältigen und unterschiedlichen Aspekte und Begleiterscheinungen im Zusammenhang mit Selbsttötung. Es gibt nicht einen einzigen kausalen Grund; dies muss in der medialen Berichterstattung klar kommuniziert sowie die individuelle Situation beschrieben werden. Ganz wichtig ist es auch, offen bei Menschen nach Suizidgedanken zu fragen, wenn das Gefühl besteht, es gehe dem Menschen nicht gut. Die Sorge eines Triggers ist unbegründet. In Österreich gibt es gerade eine Studie über das Wohlbefinden bei Jugendlichen, die besagt, dass 17 Prozent der Befragten regelmäßig Suizidgedanken haben. Es handelt sich um ein Massenphänomen, wo wir viel stärker hinschauen müssen – zum Beispiel in den Schulen, und zwar schon, bevor etwas passiert. Dann lernen wir besser mit den ersten Anzeichen umzugehen und bei Bedarf Hilfe anbieten zu können. Auch mir persönlich wurde bei der Seelenmesse bewusst, dass ich zu wenig wusste und dass ich als Vater vielleicht einen anderen Beitrag hätte leisten können. Hätte sich mein Sohn bei einem Skiunfall verletzt und wäre nicht ins Krankenhaus gegangen, hätte ich ihn auch gegen seinen Willen dorthin gebracht. Bei Traurigkeit und Depression habe auch ich gedacht, dies sei durch Ausschlafen oder Musik hören in den Griff zu bekommen.

Ihr Buch „Notizen an Tobias“ wurde im Vorjahr veröffentlicht. Wie war das mediale Echo? 

Die Reaktionen waren sehr positiv, sogar von den gesundheitspolitischen Sprechern der Parteien aller Richtungen. Es handelt sich um eine der wenigen Materien in der heutigen Gesellschaft, bei der alle Lager anerkennen, dass es einen großen Handlungsbedarf gibt. Und da es auch fast keine Familie gibt, in der kein Suizid stattgefunden hat, gibt es große Sympathie, Empathie und Interesse an der Sache. Es gab einzelne Kommentare in sozialen Medien, die mich als Vater angegriffen haben, warum sich mein Sohn sein Leben in unserer Wohnung genommen hat. Das ist vielleicht der Art und Weise des Mediums geschuldet; die große Mehrheit ist dem Thema und dem Buch gewogen. Ich wollte Tobias durch seine Werke, die im Buch vorhanden sind, zu Wort kommen lassen, und nicht für ihn sprechen. Es handelt sich um ein sehr persönliches Buch zwischen mir und meinem Sohn, bei dem ich versucht habe, sehr bewusst zu schreiben. 

Was möchten Sie bei den Leserinnen und Lesern auslösen? Welche Reaktion erhoffen Sie sich? 

Ich möchte die potenziellen Lesergruppen unterscheiden. Bei denen, die Betroffene oder Angehörige sind, würde ich mir wünschen, dass sie freien Herzens Hilfe annehmen – sei es, eine Therapie zu beginnen oder sich zu trauen, sich offen darüber auszutauschen. Gesellschaftlich habe ich die drei klassischen Ziele: keine Unterscheidung zwischen psychischer und physischer Gesundheit, Enttabuisierung des Themas und Entstigmatisierung der Betroffenen sowie die Überlegung, wo es Räume außerhalb der Familie geben kann, wo ich mich reiben, anhalten und mich finden kann. 

jorin.massimo.flick@brixner.info 

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ElTopo Oktober mit Golli Marboe

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