"Schlechte Gefühle gehören zum Leben"

"Schlechte Gefühle gehören zum Leben"

Golli Marboe im Gespräch mit Nora Neuteufel, Erstveröffentlichung: MeinBezirk.at am 10. September 2022

Die RegionalMedien Austria haben mit Golli Marboe gesprochen, einem Vater, dessen Sohn sich tragischerweise das Leben genommen hat und nun Präventionsarbeit leistet.

Foto: VsUM

Suizidprävention mit Golli Marboe

Suizid sowie psychische Probleme sind immer noch Themen, über die nicht viel gesprochen wird. Doch genau darin liegt das Problem, meint der Medienexperte und Buchautor Golli Marboe im Gespräch mit den RegionalMedien Austria. Er verlor 2018 seinen Sohn durch einen Freitod und setzt sich seitdem für einen offeneren Umgang ein, um Tode zu verhindern.

Wenn du Hilfe brauchst oder jemanden kennst, der an Suizid denkt, wende dich bitte an folgende Beratungsstellen:
Telefonseelsorge:
142, täglich 0-24 Uhr, telefonseelsorge.at
Ö3 Rotes Kreuz Kummernummer:
116 123, täglich von 16-24 Uhr
Website:
bittelebe.at (Kinder und Jugendliche)

ÖSTERREICH. Am 10. September ist der Welttag der Suizidprävention. Im Jahr 2020 starben in Österreich über 1.000 Personen durch Suizid, mehr als dreimal so viele wie im Straßenverkehr. Zu Selbsttötungen liegen keine verlässlichen Daten vor, doch internationale Studien gehen davon aus, dass die Zahl der tatsächlich durch Suizid verstorbenen Personen um das Zehn- bis Dreißigfache höher ist.

Die RegionalMedien Austria haben mit Golli Marboe gesprochen, einem Vater, dessen Sohn sich tragischerweise das Leben genommen hat und nun Präventionsarbeit leistet. In seinem Buch "Notizen an Tobias" arbeitete er den Tod seines 29-jährigen Sohnes auf und schrieb über seine Gedanken und Gefühle.

RegionalMedien Austria: Die WHO und die International Association for Suicide Prevention haben 2003 erstmals den 10. September als Welttag der Suizidprävention ausgerufen. Was halten Sie davon: Braucht es hierfür wirklich einen eigenen Tag oder ist Suizidprävention nicht immer wichtig?
Golli Marboe: Ich glaube, die Sichtbarkeit des wichtigen Themenkreises Suizidprävention zu erhöhen, sollte natürlich im ganzen Jahr passieren. Aber wenn es dann noch einen Tag gibt, wo Regionalmedien und andere darüber berichten, weil es diesen Gedenktag gibt, dann hat das durchaus einen Sinn.

In Ihrem Buch "Notizen an Tobias" schreiben Sie über Ihre Erfahrungen mit dem Thema Suizid. Vielleicht können Sie kurz erzählen, warum Sie sich entschieden haben, Ihre Gedanken in einem Buch festzuhalten.
In den ersten Tagen nach der Katastrophe und dem Tod des Tobias ist mir ein ganz eigenartiges Phänomen begegnet. Fast täglich bis heute ziehen mich Menschen ins Vertrauen und sagen mir: "Golli, wir verstehen so gut, wie es euch geht, weil mein Vater sich das Leben genommen hat. Habe es zwar überwunden, aber es geht mir immer wieder schlecht." Und all diese Vertrauensbekundungen enden mit dem Satz: "Bitte sag’s niemanden."
Jetzt habe ich selber ja gewusst, dass man überhaupt keine Kraft für gar nichts mehr hat nach so einem tragischen Event, und ich mich dann frage: Wieso soll ich von der nicht vorhandenen Kraft auch noch einen Teil verwenden, um etwas zu verheimlichen, was es eh nicht zu verheimlichen braucht? Dann ist mir etwas Zweites begegnet. Der Begriff des Werther-Effekts, wo man aus Sorgen vor Nachahmung in unseren Medien, aus Sorge, dass das dann jemand kopieren könnte, gar nicht über Suizid berichtet.

Der typische Europäer verbringt acht bis zehn Stunden am Tag mit Medien. Sei es mit dem traditionellen Fernsehen, Print, Radio oder auch mit Sozialen Medien. Das ist so ein Brandbeschleuniger, wenn wir gerade bei Menschen, die sich aufgrund ihrer psychischen Belastung aus den klassischen sozialen Räumen zurückziehen, vielleicht auch nicht mehr arbeiten können. Die sind trotzdem noch in den Medien unterwegs. Und wir aus gut gehaltener Zurückhaltung schreiben dann nicht über das, wo wir sie vielleicht noch erreichen können. Das nennt man den Papageno-Effekt, der wurde vor knapp zehn Jahren von der MedUni Wien nachgewiesen und bezieht sich auf die Zauberflöte, ehe sich der Papageno das Leben nehmen möchte, dann erscheinen irgendwie drei Knaben und erinnern ihn an sein Glockenspiel und sagen: “Papageno, du kannst dir doch helfen!” Von außen kommt die Hilfe zur Selbstermächtigung. Das ist jetzt sozusagen State of the Art in der Kommunikation über Suizide, dass man in einer achtsamen, angemessenen und hoffentlich auch kompetenten Form darüber berichten kann, was so über einen Suizid zu berichten ist. Dass es da Grenzen gibt, ist selbstverständlich. Wir dürfen natürlich nie über das Unglück anderer Menschen berichten. Aber indem wir die Überwindung von Krisen, die Traurigkeit von Hinterbliebenen zeigen, Menschen in ihrer ganzen Persönlichkeit beschreiben und nicht nur über die Tötungsmethode, sondern als Persönlichkeit zeigen, können wir helfen.
Da können wir einen Beitrag dazu leisten, dass in unserer Gesellschaft das Suizidproblem nicht so tabuisiert wird und dass Betroffene – und damit meine ich nicht nur Menschen, die sich selbst suizidiert haben, sondern auch die Hinterbliebenen – auch endlich entstigmatisiert werden. Das ist genauso wichtig.

Im Herbst 2012 wurde das österreichische Suizidpräventionsprogramm SUPRA ins Leben gerufen. Sind Sie grundsätzlich zufrieden mit den Maßnahmen, welche die Politik zum Thema Suizidprävention setzt?
Nein, natürlich nicht (lacht). Aber damit meine ich nicht SUPRA, weil die haben nachweisbar großartige Arbeit geleistet und leisten nach wie vor großartige Arbeit. Bis zu Covid gingen die Suizidzahlen zurück. Durch mehr Sichtbarkeit des Themas engagiertes Arbeiten in Peer Groups und so weiter. Aber wir müssen an einer Gesellschaft arbeiten und soviel ich weiß, alle meine Gespräche auch mit Vertretern aus politischen Parteien bestätigen mir das eigentlich: Ist es wirklich allen klar, dass wir zwischen der Bearbeitung von psychischer und physischer Gesundheit keinen Unterschied machen dürfen?

Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Skiunfall und Sie brechen sich den Arm, kommen ins Krankenhaus. Dort wird zwar der Knochen eingerenkt, aber dann sollen Sie drei Monate auf den Gips warten? So ähnlich ist das mit einem psychischen Problem. Sie werden zwar vielleicht in ein Spital gebracht oder zu einem Arzt, aber dann müssen Sie Monate warten, bis Sie eine Therapie bekommen? Noch dazu, wo wir Menschen uns über die Seele, die Psyche, die Emotionen, die Gefühle formulieren. Das macht uns doch erst zu Menschen: das Bewusstsein und die Fähigkeit zu reflektieren. Da müssen wir ja auch Sorge tragen, dass es der Seele und der Psyche gut geht. Das ist eine große gesellschaftliche Aufgabe. Ich möchte sie aber nicht alleine auf die Politik reduzieren.
Wir alle miteinander sollten uns trauen, auch über unsere Unzulänglichkeiten zu reden, durchaus nicht es zu kultivieren, nicht um damit anzugeben. Aber jeder von uns ist doch ab und zu erdrückt im Leben. All das sind Fragen, die die Seele belasten und das ist nicht per se etwas Böses. Es ist erst recht nicht etwas Unanständiges, sondern es ist der normale Lauf unserer menschlichen Existenz.

Es gibt immer mehr Berichterstattungen über Morde oder auch Suizide. Ist es Ihrer Meinung nach förderlich, wenn über Suizide berichtet wird oder gelten diese Themen weiterhin noch als Tabuthemen in den Medien?
Natürlich muss mehr darüber berichtet werden, weil es ja so viele Menschen betrifft. Circa drei Menschen am Tag nehmen sich in Österreich das Leben – je nach Studie –, zehn bis zwanzig Versuche scheitern. Dann ist es wieder so, dass Angehörige auch bei gescheiterten Suizidversuchen in schwere existenzielle Nöte und Krisen kommen. Es ist ein weit verbreitetes Phänomen. Wenn Sie sich ein bisschen umhören, dann begegnet Ihnen ja auch in Ihrem nahen Umfeld garantiert irgendeine Familie, wo es einen ähnlichen Schicksalsschlag gab. Das heißt, es ist völlig komisch, dass wir darüber nicht berichten und es ist gut, dass es passiert.

Entscheidend ist aber, dass wir ohne die Intimsphäre und die Würde der Betroffenen zu verletzen, berichten. Es geht natürlich gar nicht, dass ich Fotos von Verstorbenen zeige. Es geht nicht, dass ich Abschiedsbriefe zitiere. Es geht gar nicht, dass ich Eltern oder Hinterbliebene zu interviewen versuche. Hier glaube ich, dass wir wirklich nicht nur den Richtlinien des Krisen- und Präventionszentrums zur Berichterstattung von Suiziden folgen sollten, sondern vor allem auch den Hausverstand einsetzen. Auch wir Journalistinnen und Journalisten sollten bei der Berichterstattung über Suizid uns einfach dem Prinzip unterwerfen, das wir sagen: Könnten wir das, was wir da schreiben, der Mutter des Verstorbenen auch ins Gesicht sagen? 

Welche Anzeichen können Suizidgefährdete geben? Worauf können Eltern, Freunde, Mitmenschen usw. achten und wie geht man mit einem Menschen um, der darüber nachdenkt, sich das Leben zu nehmen?
Natürlich ist jeder Schicksalsverlauf ein anderer und immer gibt es andere Signale und Gründe. Ich gebe Ihnen jetzt einfach nur ein paar Blitzlichter von Dingen, die ich in dem Zusammenhang gerne rein werfe in den Korb an Gedanken. Das eine ist, dass sich noch nie jemand das Leben genommen hat, weil man gefragt hat, ob er Suizidgedanken hat. Diese weit verbreitete Angst, diese Frage zu stellen, wird nie jemanden triggern. Da kommen die Menschen schon selber drauf, dass sie sich das Leben nehmen könnten.
Im Gegenteil: Die Frage zu stellen, wozu man natürlich Mut braucht, ist ein Zeichen der Anteilnahme und Solidarität. Die Betroffenen werden sich in der Regel verstanden fühlen und ihre Reaktion ist dann die, dass jemand spürt, wie ernst man in der Krise ist und wie tief das geht. 
Ich habe auch Freunde, die sind Chirurgen und die sagen mir, dass eine Blinddarmoperation etwas relativ Einfaches ist. Trotzdem käme ich nie auf die Idee, irgendwem den Blinddarm rauszuschneiden. Wieso glauben wir alle, dass wir psychische Krankheiten durch ein Gespräch, durch Ausschlafen oder durch Sport und Musik in den Griff bekomme können?

Das heißt, wir Angehörige und Hinterbliebene müssen auch lernen, Grenzen zu ziehen, wo wir überfordert sind und wir brauchen dann Hilfe von professionellen Einrichtungen: Von Therapeutinnen und Therapeuten, von Ärztinnen und Ärzten und von Profis, weil die Seele und das Herz sind genauso Teil unseres menschlichen Wesens wie der Körper. Man darf nicht als Mutter oder Vater den Irrglauben folgen, dass man selber so etwas lösen könnte. Da braucht es schon die Offenheit, dass man sich Hilfe sucht. Im Idealfall steuern wir auf eine Gesellschaft zu, die dann schon therapeutische Gespräche führt, wenn noch nichts großartig Schlimmes passiert ist, sondern einfach zur Reflexion. Wie geht es dir überhaupt? Was macht deine Seele? Was sind die Dinge, die dich froh machen, was sind die Dinge, die dich belasten? Das müssen wir durch Therapeutinnen und Therapeuten tun und zu einer Zeit, wo es noch keine Katastrophe gibt oder eine schwere Krankheit.

Gerade während der Lockdowns waren viele Menschen einsam, zusätzlich sind fast 40 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher mindestens einmal im Leben von einer psychischen Erkrankung betroffen. Was raten Sie Menschen, die keinen Ausweg mehr sehen und vielleicht gerade über einen Suizid nachdenken?
Natürlich erzählen, natürlich jemand anderen ins Vertrauen ziehen. Alle, die da noch in der Lage dazu sind, soziale Kontakte zu schmieden, sollen dann ihre engsten Freunde und nahen Menschen bitten: "Du, bitte organisiere mir ein Gespräch mit jemanden, der sich auskennt. Bitte wähle für mich die Nummer der Telefonseelsorge. Bitte mach für mich einen Termin im Kriseninterventionszentrum aus und am besten begleitest du mich, damit ich auch hinfinde und nicht daran verzweifle, dass ich in die falsche Straßenbahn eingestiegen bin."
Es geht um so ganz einfache Sachen. Das klingt vielleicht ein bisschen profan, aber belastete Menschen haben oft ein Problem, eine Nummer zu wählen. Sie wollen dann schon sprechen, aber dieser Akt die Nummer zu wählen, das kann das Schwierige sein.
Ich würde mir wünschen, dass die Menschen andere ins Vertrauen ziehen und sich dann zu erkennen geben, weil wir leider zu wenig Wissen über das psychische Wohlbefinden haben in unserer Gesellschaft, dass kaum jemand kennt, wie ernst es manchmal ist.

Danke für das Gespräch.

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Gedenken an Menschen, die durch Suizid verstorben sind

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Warum wir über Traurigkeit reden müssen