Wenn das eigene Kind nicht weiterleben will

Golli Marboe beschreibt seinen Sohn als sehr kulturnah und kunstaffin. In seinem Buch zeigt er einige Werke von Tobias, unter anderem auch die Wachsmalerei „Feuer und Wasser“.

Golli Marboe ist Vater eines Sohnes, der Suizid begangen hat. In Aachen, Stolberg und Düren liest der Autor aus seinem Buch.

AACHEN „Es klingelt an der Tür der Familie Marboe im 4. Stock. ,Da ist was mit Tobias!’ – ,Ja, er ist nebenan. Wir richten gerade das Gästezimmer für ihn her.’ – ,Nein, es ist was mit ihm unten auf der Straße!‘ Seit diesem Nachmittag des 26. Dezember 2018 ist das Leben der Familie Marboe nicht mehr, wie es war. Tobias Marboe hat sich das Leben genommen.“ Die Worte auf der Innenseite des Bucheinbandes wirken nach. Der Autor des Werkes, Golli Marboe, ist 57 Jahre alt, in Wien geboren, freier Journalist, hat vier Kinder – und ist Vater eines Sohnes, der sich mit 29 Jahren das Leben genommen hat. In seinem Buch „Notizen an Tobias“ richtet Marboe seine Gedanken direkt an den verstorbenen Sohn, voller Emotionen und Fragen. Im Rahmen der bundesweiten „Woche für das Leben“, die sich Suizidalität aus verschiedenen Perspektiven annähert, kommt Golli Marboe für drei Lesungen nach Aachen, Düren und Stolberg. Mit Redakteurin Claudia Heindrichs spricht er über seinen schweren Schicksalsschlag, den Weg, mit der Trauer umzugehen, und er erklärt, wieso es so wichtig ist, offen über psychische Krankheiten und das Thema Suizid zu reden.

Herr Marboe, wie kam es dazu, dass Sie nach dem Tod Ihres Sohnes ein Buch geschrieben haben?

Golli Marboe: Das hat sich schleichend entwickelt. Zuerst habe ich einfach nur für mich geschrieben – wie in ein Tagebuch, als eine Art Selbsttherapie. Relativ schnell habe ich dann Gastkommentare aufgenommen. Als ich mehrheitlich positives Feedback bekam, hat sich die Idee entwickelt, aus ausgesuchten Notizen ein Buch zu machen.

Das Erinnern und Aufschreiben hat Ihnen also im Verarbeitungsprozess geholfen. Dennoch werden Sie, etwa bei Lesungen und Vorträgen, auch immer wieder mit dem Schmerz konfrontiert. Wie haben Sie einen Weg gefunden weiterzumachen?

Marboe: Ich versuche nach folgendem Prinzip mit dem, was wir gemeinsam erleben durften, umzugehen: Auch Eltern, deren Kinder noch leben, haben viele Momente, die nicht wiederholbar sind. Der erste Schultag, ein besonderer Urlaub, das erste Mal Schwimmen ohne Schwimmflügel... All diese Erlebnisse sind bei Eltern, deren Kinder noch leben, positiv abgelegt und in schöner Erinnerung. Warum sollte ich die Erinnerung an die gemeinsame Zeit mit meinem Sohn auf diesen einen schrecklichen Tag reduzieren? Dennoch muss ich sagen, dass mein Leben gescheitert ist. Auf die Frage, welche eine Sache man im Leben erreichen will, werden alle Eltern antworten, dass es den Kindern gut geht. Mein Alltag ist ein anderer geworden als vor dem Tod des Buben.

Welche Rolle spielt für Sie der Glaube im Umgang mit dem Tod?

Marboe: Ich hoffe darauf, dass wir Tobias irgendwann in irgendeiner Weise wiedersehen. Und dafür braucht man nicht religiös gläubig sein. Ich denke, das ist eine tiefe Sehnsucht in jedem Menschen, dass man die Verstorbenen noch einmal wiedersehen möchte. In meiner Vorstellung ist es so, dass es eine Art Auflösung von Zeit ist, eine Art Gleichzeitigkeit. Ich bin kein besonders frommer Mensch, aber wenn diese Gleichzeitigkeit nach dem Tod eintreten sollte, dann würde das bedeuten, dass der Tobi gerade bei uns ist. Wir sehen ihn nicht, aber er schaut vielleicht über unsere Schulter und ist da.

Im Zusammenhang mit Tod und Trauer geht es häufig um Schuld. Möglicherweise haben auch Sie sich die Frage gestellt, inwiefern Sie Schuld haben und ob Sie den Suizid hätten verhindern können?

Marboe: Als Hinterbliebener stellst du dir natürlich die Fragen: Was habe ich übersehen, was hätte ich besser machen können? Warum habe ich das in der Tragweite nicht bemerkt? Und schließlich auch die Frage: Warum hat denn der Tobi nicht gespürt, wie lieb wir ihn haben? Weil wir doch versucht hätten, ihm zu helfen, so gut es uns halt gelingen würde. Trotzdem ist Schuld aus meiner Sicht nicht der richtige Begriff. Nachlässigkeit, sich nicht genug damit beschäftigt zu haben, Dinge übersehen zu haben – das ja. Aber Schuld wäre ein Omnipotenzgefühl. Wenn ich schuld dran wäre, dass mein Sohn sich das Leben genommen hat, dann hätte ich andersherum auch in der Hand gehabt, ihm das Leben zu geben. Alle Menschen, die sich schuldig fühlen, überschätzen sich. Es ist tragisch, es ist schrecklich und man hat bedingt Mitverantwortung, aber man ist nicht schuld. Wir müssen uns endlich befreien aus diesem christlich geprägten Selbstverständnis. Schuld ist nicht angebracht. Übrigens gibt es noch ein zweites Gefühl, das ich allen Hinterbliebenen empfehle zu verarbeiten: Zorn. Der Zorn ist nämlich etwas, bei dem Hinterbliebene glauben, der andere hat ihnen das antun wollen. Das ist aber nicht der Fall. Ein suizidaler Mensch ist von der Krankheit dominiert, von welcher auch immer.

Wie sind andere Menschen mit Ihnen umgegangen – und wie sollten Außenstehende Angehörigen nach einem Suizid begegnen?

Marboe: Im Großen und Ganzen gibt es sehr viel Liebe und Zuneigung. Im Akutfall, wenn jemand geht, muss man Angehörigen kondolieren. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Menschen, die jemand Nahestehenden verloren haben, selber sehr suizidgefährdet sind. Da muss man auf sie aufpassen und schauen, was man tun kann. Wenn man als Freund sagt: „Ich lass den anderen mal in Ruhe“ oder „Was soll ich schon schreiben? Mir fällt nichts ein“, dann hat man diese Beziehung beendet. Wie sollte man jemanden nach vier oder acht Wochen wiedersehen und übers Wetter reden, während man als Freund oder Freundin an dem Tag nicht da war, an dem die schlimmste Katastrophe im Leben des anderen passiert ist? Das heißt, wir müssen als Umfeld von Hinterbliebenen immer einen Weg suchen, uns sozusagen als Angebot ins Spiel zu bringen. Das kann eine SMS oder Whatsapp sein. Das kann aber auch auf die Weise passieren, wie mein Onkel es gemacht hat. Er hat uns jeden Tag eine Suppe vor die Tür gestellt und eine SMS geschickt mit den Worten: „Heute eine rote Suppe.“ Uns hat das gezeigt, dass sich der 77-jährige Mann Zeit nimmt, kocht und in Gedanken mit uns ist – ohne uns zu überrumpeln oder sich aufzudrängen... Auf jeden Fall muss man sich melden, keinesfalls nicht melden.

Der Wiener Autor Golli Marboe hält in seinem Buch „Notizen an Tobias“ seine Gedanken zum Suizid seines Sohnes fest. Das Buchcover zeigt Tobias – einen jungen Mann, „einen sehr gesellschaftspolitisch denkenden Menschen. Er war ein Künstler, der versucht hat, durch seine Wort-Bild-Piktogrammme, seine Lieder und seine Texte Blickwinkel zu eröffnen, die man vielleicht übersieht“, sagt sein Vater.

FOTOS: VSUM, RESIDENZVERLAG

Vielleicht fällt es den Mitmenschen so schwer, sich in dieser Situation richtig zu verhalten, weil über Suizid so selten gesprochen wird. Sie setzen sich dafür ein, dass das Thema enttabuisiert wird. Wo liegen die größten Probleme in unserer Gesellschaft?

Marboe: Da könnte man jetzt viele Antworten geben. Ich werde zwei pointierte Gründe nennen. Ein richtig großes Problem sind Männer. Suizidalität ist ein Männerthema, denn Dreiviertel aller Suizidtoten sind männlich. Männer bitten nicht um Hilfe, weil sie glauben, sie müssten alle Probleme alleine lösen. Es gibt immer noch diese blödsinnigen Rollenverständnisse, die wirklich längst überholt sein müssten. Wir müssen uns von diesen eigenartigen Heldengeschichten befreien, die zum Beispiel im Unterhaltungskino stattfinden oder im Sport gelebt werden, wo es die pure Heldenverehrung gibt – nur der Sieger zählt, die 88 anderen, die gestartet sind, spielen keine Rolle... und lauter so Scheiße. Daneben gibt es eine zweite Antwort, die ein bisschen schwieriger ist, und die lautet Scham. Wir schämen uns, weil wir glauben, dass psychische Krankheiten und Krisen nur uns begleiten, während die anderen alles im Griff haben und niemand so schwach ist wie man selbst. Hier ist umso mehr Kommunikation gefordert.

Kommunikation spielt in der Präventionsarbeit also eine wichtige Rolle. Wieso ist das so und was gilt es dabei zu beachten?

Marboe: Es ist ja nicht so, dass Menschen, die sich suizidieren, nicht mehr leben möchten. Sie wollen nur so nicht mehr leben. Das muss man sich einmal vorstellen. Da gibt es eigentlich keine Absicht, tot sein zu wollen. Da geht es nur darum, nicht so weiterleben zu können, wie es gerade ist. Das heißt, wir als Gesellschaft sind gefordert, dass die Rahmenbedingungen gerade für unsere Jugend so sind, dass sie eine Perspektive hat. Die Betroffenen müssen merken, dass sie kein Einzelfall sind. Das heißt: drüber reden, drüber reden, öffentlich reden und keine Scheu haben. Es hat sich noch niemand das Leben genommen, weil man ihn oder sie gefragt hat, ob er oder sie Suizidgedanken hat. Das ist so eine große Sache, auf diese Idee kommt man ja nicht „einfach so“. Diese Entscheidung hat immer einen multikausalen Hintergrund. Und eine dieser Kausalitäten ist, dass in der Öffentlichkeit nicht darüber gesprochen und dann das Schamgefühl so groß wird. Mein Leben hat sich sehr stark dahin ausgerichtet, dass ich zum Beispiel journalistisch versuche, über die angemessene, kompetente Kommunikation über Suizidalität zu informieren. Menschen, die in einer seelischen oder psychischen Krise sind, ziehen sich aus der Kommunikation mit ihren Freunden oder Vereinen zurück. Aber sie konsumieren weiter Onlinenachrichten, schauen Fernsehen oder streamen. Und wenn wir sie dort dann nicht erreichen, dann verpassen wir eine Chance. Dementsprechend müssen wir nicht Suizidalität als Thema streichen, sondern wir müssen lernen, wie wir in einer angemessenen Art darüber sprechen können. Wenn wir keinen Paradigmenwechsel schaffen, dann werden wir immer nur die Krisenbetreuung zum Thema machen, also mehr Jugendpsychiatrieplätze, mehr Therapieplätze auf Krankenschein, und so weiter. Wir sollten aber als Ziel in unserer Gesellschaft haben, dass weniger Menschen krank werden.

Präventionsarbeit kann in den eigenen vier Wänden anfangen. Gibt es Anzeichen oder die Möglichkeit, dass Eltern oder Angehörige bemerken können, wenn ihr Kind droht, nicht mehr aus einer psychischen Krise herauszukommen?

Marboe: Wir Erziehungsberechtigten müssen die Grenzen unserer Hilfsmöglichkeiten erkennen und schauen, wann und wie wir Profis dazu holen müssen. Wir spüren ja, wenn das Kind über längere Zeit traurig ist. Wir spüren, wenn es komisch redet oder wenn es sich zurückzieht. Wir Eltern glauben dann oft, wir müssten nur die richtige Musik anmachen oder dem Kind eine Freude bereiten. Ich bringe gerne einen Vergleich: Ich habe Freunde, die sind Chirurgen. Die sagen mir, Blinddarm ist eine einfache Operation. Aber ich käme deshalb doch nie auf die Idee, bei jemandem die Bauchdecke zu öffnen und den Blinddarm rauszuschneiden. Warum glauben wir dann, dass wir eine schwere Depression, eine Angststörung, eine Panikattacke oder den Drang zur Suizidalität mit unseren laienhaften, lieb gemeinten, aber trotzdem völlig unzulänglichen Mitteln in Ordnung bringen können? Das heißt, Eltern können zweierlei: Sie können sich mehr bilden, damit sie die Symptome kennenlernen, diese Symptome immer ernst nehmen und die Abgrenzung der Kinder so verstehen, dass sie sich aktiver um Hilfe bemühen und den Kindern Hilfe zuteil werden lassen sollten ... Eltern müssen sich in so vielen Momenten unbeliebt machen, warum nicht auch in Momenten, wo es um psychische Gesundheit geht?

Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sprechen Sie mit anderen Menschen darüber. Die Telefonseelsorge Deutschland ist täglich rund um die Uhr telefonisch und auch online unter www.telefonseelsorge.de erreichbar. Jede Anruferin und jeder Anrufer erhält kostenfrei Beratung in allen Lebenslagen sowie ein offenes Ohr bei Krisen, Sorgen, Ängsten und Nöten: 0800/111 0 111. Auch die „Nummer gegen Kummer“ ist anonym und kostenlos unter dem Kinder- und Jugendtelefon 116 111 (montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr) sowie dem Elterntelefon (montags bis freitags von 9 bis 17 Uhr, dienstags und donnerstags bis 19 Uhr) unter 0800/111 0 550 erreichbar

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