Es geht um die Ursachen, nicht nur um Symptome

Es geht um die Ursachen, nicht nur um Symptome

Seit dem Tod der Ärztin Lisa-Maria Kellermayr wird zu Recht über „Hass im Netz“ diskutiert. Nötig ist freilich auch eine weitergehende Debatte über die Gründe für Suizidalität. Ein Gastkommentar.

Von Golli Marboe, Erstveröffentlichung: Die Furche am 11. August 2022

Der Leitartikel der letztwöchigen Furche hat die politische Dimension des schrecklichen Suizids von Lisa-Maria Kellermayr beleuchtet. Dieser Tod gebe „dem Phänomen ‚Hass im Netz‘ ein Gesicht“ und offenbare „das systemische Versagen im Umgang mit digitalem Terror“, hieß es dort. Die Kommunikation in diesen (sozialen) Medien mag widerlich sein. Und man versteht wirklich alle, die diesen schrecklichen Tod zum Anlass nehmen, sich aus Twitter und Co einfach zurückzuziehen und den eigenen Account zu löschen. Vielleicht aber gelingt es in den nächsten Monaten auch – ausgehend von diesem Diskurs über die Verantwortung der Polizei, der Politik oder auch der Twitter- und Telegram-Community –, weitergehende Fragen zu stellen, etwa: Warum fühlen sich in unserem Land derart viele Menschen überhaupt psychisch belastet, so wenig wertgeschätzt und alleingelassen? Denn die Gründe für Suizide oder von Suizidversuchen, wie auch jenem von Hans-Jörg Jenewein, und ganz allgemein für die Zunahme von psychischen Problemen in unserer Gesellschaft reichen doch viel tiefer. Tatsächlich zeigt das Gesundheitssystem in Sachen „Mental Health“ große Mankos. Beschwerden physischer Art werden umgehend und kostendeckend behandelt; bei Problemen psychischer Art muss man hingegen auf Therapieplätze oft monatelang warten – und hat zudem gar nicht selten einen beträchtlichen Selbstbehalt zu leisten. Das allein beschreibt schon die unterschiedliche Wertschätzung der Mehrheitsgesellschaft: Ein gebrochenes Bein ist irgendwie cool, wird man gemobbt, dann ist man ein Verlierer, ein Loser.

Wir brauchen „Mental Health Literacy“

Wie sollen Menschen aber auch Selbstwertgefühl und psychische Stabilität gewinnen, wenn sie in einem Bildungssystem aufwachsen, in dem man sich mit den eigenen Schwächen beschäftigen muss, statt dass die Talente gefördert würden? Oder wenn jene belohnt werden, die vorgefertigte Antworten auswendig aufsagen, dagegen jene, die kritische Fragen stellen, viel zu oft als Störenfriede abgekanzelt werden? Umso wichtiger wäre es, die Sichtauchbarkeit von Mental Health zu erhöhen, indem man es etwa in den Lehrplänen und im Schulalltag implementiert. So wie das alljährliche Sportschulfest braucht es jährliche „Tage der psychischen Gesundheit“. Damit sich Themen wie Mobbing, Internetabhängigkeit, Depressionen, Ängste oder Suizidalität eben gar nicht erst verfestigen. Denn gerade junge Menschen fühlen sich alleingelassen und unverstanden. 2014 waren 20 Prozent der Schüler(innen) und Lehrlinge von psychischen Problemen betroffen, mittlerweile sind es laut Studien der Medizinischen Universität Wien und der Donauuniversität mehr als 50 Prozent. Wir sprechen also von einem gesamtgesellschaftlichen Problem. „Digital Natives“ sind dabei geprägt von den Kommunikationsplattformen der Gegenwart. Praktisch jedes von Kindern und Jugendlichen veröffentlichte Selbstporträt ist bearbeitet, folgt den Körperbildern der „Schönen und Reichen“ des Mehrheitsgeschmacks. Phänomene wie „Body Positivity“ sind hingegen noch immer ein Minderheitenprogramm einer selbstreferenziellen Elite. Auch wirtschaftliche Not belastet die Psyche. Immer noch gilt Besitz als Weg zum Glück. Wie aber soll eine Generation dann eine Zukunftsperspektive finden, wenn nur jene, die erben, auch in der Lage sind, Eigentum überhaupt aufzubauen? Mit einer Lehrlingsentschädigung oder auch später mit einem durchschnittlichen Einkommen wird man keine 20-Prozent-Eigenmittel für einen Kredit nachweisen können. Was macht das mit Menschen, die einfach nicht genug Bonität von einer Bank erhalten? Sie sind nicht gut genug für unser Land? Die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens könnte zumindest dafür sorgen, dass sich niemand mehr über die Grundnotwendigkeiten des täglichen Bedarfs – wie Miete, Energie oder Essen – Sorgen machen müsste.

Der Papageno-Effekt

In einer Gesellschaft, in der sonst nur Sieger zählen, brauchen wir alternative Role-Models: Durch Porträts von Menschen, die persönliche Krisen überwunden haben, kommt es – von der MedUni Wien nachgewiesen – zu positiven Nachahmungseffekten. Dieser sogenannte Papageno-Effekt steht für ein Leben mit Narben, mit Verletzungen – nach oder sogar mit Schmerzen. Wenn wir über Fragen des psychischen Wohlbefindens mehr reden, fühlen wir uns weniger allein. Nicht zuletzt gilt es auch, nach einem Suizid die bedrohliche Einsamkeit von Angehörigen und Hinterbliebenen zu vermindern. Ein Beispiel, wie das Thema Suizidalität in unserem Alltag sichtbar werden kann, zeigt Mario Dieringer mit seinem Projekt „Trees of Memory“. Gegründet hat er den Verein anlässlich des Todes seines Lebenspartners, der sich das Leben nahm. Dieringer wandert seit damals zu Fuß durch Europa und pflanzt zusammen mit Hinterbliebenen Bäume. Es wäre schön, wenn am Attersee bald ein Baum zur Erinnerung an Lisa-Maria Kellermayr gepflanzt werden würde.

„ Durch Porträts von Menschen, die Krisen überwunden haben, kommt es zu positiven Nachahmungseffekten. “

Foto: Ursula Hummel-Berger

Der Autor initiierte mit seinem Verein zur Förderung eines selbstbestimmten Umgangs mit Medien (VsUM) die „Tage der psychischen Gesundheit“, die ab Herbst 2022 an Schulen über mentale Gesundheit informieren sollen. Weitere Infos unter mentalhealthdays.eu.

Hinweis:

Hilfe für Menschen in Krisensituationen bieten die Telefonseelsorge (142) sowie „Rat auf Draht“ (147).

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